Es sind besonders die ergreifenden Bilder, die den Leser des Buches „Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee“ weiter verfolgen. Das des Bahndamms mit den Hunderten von kleinen Zetteln, auf denen die Deportierten ihre letzten Grüße notierten. Sie warfen diese in der Hoffnung, man möge sie ihren nichtsahnenden Angehörigen geben, aus dem Viehwaggon, der sie in die östliche Unendlichkeit der Sowjetunion brachte. Oder das der kleinen, öden, nur mit wenigen Büschen bewachsenen Insel Bylina inmitten des Ob-Stromes, auf der die Menschen ohne Nahrung „zum Verrecken“ abgesetzt wurden. Die lettische Politikerin Sandra Kalniete reiht in ihrem Buch über die Geschichte ihrer Familie Bilder dieser Art aneinander. Ihre Mutter wurde am 17. Juni 1941 als 14jährige mit ihren Eltern aus Lettland nach Sibirien verschleppt. Dort lernte sie ihren späteren Mann kennen, der mit seiner Familie 1949 das Schicksal der Deportation teilen mußte. Und dort wurde Sandra Kalniete 1952 geboren, bevor sie erst Jahre später in die baltische Heimat ihrer Ahnen zurückkehren konnte. Unter der Knute Stalins erfüllte ihre Familie zwei Voraussetzungen für diesen Leidensweg: Zum einen waren sie als bescheiden lebende „Bourgeoise“ prädestiniert für die kommunistische Klassenmordideologie, zum anderen störten sie als nationalbewußte Letten in der Sowjetunion den auch vom Georgier Stalin verfolgten Weg einer Russifizierung – waren also auch Opfer von Nationalismus. Daß sich diese Politik im seit 1940 von Stalin annektierten Baltikum im Windschatten des schon tobenden europäischen Krieges vollzog beziehungsweise in seiner Fortsetzung 1949 hinter dem unsichtbaren Eisernen Vorhang, begründet die weitverbreitete Unkenntnis über dieses Unrecht im Rest von Europa. Auch im Baltikum konnte man sich dieser Erinnerung erst nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 widmen. Aus dem Sieger wurde ein Bezwinger des Bösen Kalniete, die in der Unabhängigkeitsbewegung zur politischen Figur reifte, hat infolgedessen die Aufarbeitung auch erst danach beginnen können. Sie hat Archive durchforstet, Überlebende befragt, den Weg ihrer während der Deportation getrennten Familienmitglieder bis an die Stätten ihres Todes nachvollzogen und 2001 ihre Geschichte unter dem Titel „Ar balles kurpem Sibirijas sniegos“ in Riga veröffentlicht. Der Titel, der auf die fehlende Vorbereitung der im Sommer „abgeholten“ Familie anspielt, die ihnen oft mit den zuletzt angezogenen Ballschuhen in der Härte des winterlichen Gulag-Systeme den Garaus bereitete, wurde bereits in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Doch aus der Vielzahl der „Erinnerungsliteratur“ der vergangenen Jahrzehnte, die um die Tragödien während des Zweiten Weltkrieges kreist, berührt Kalnietes Werk eine andere Dimension. Und gerade in den letzten Wochen, in denen man des Endes des Zweiten Weltkrieges gedachte, wurde demonstriert, welche Aktualität diese hat. Die Feiern des 8. Mai in Moskau haben es offenbart. Dort ist weniger des zu Ende gegangenen schwärzesten Kapitels der europäischen Geschichte mit seinem millionenfachen Tod und Leid während des Zweiten Weltkrieges gedacht worden, sondern primär des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland. Der Unrechtscharakter dieses besiegten Regimes mit seinem entsetzlichen Fanal Auschwitz lieferte die Interpretation einer Befreiung Europas für die Siegermächte. Unwichtig – weil störend – ist dabei, daß weder die gefallenen alliierten Soldaten in der Normandie noch die auf den Schlachtfeldern an den Seelower Höhen verbluteten Rotarmisten ihr Opfer für die in deutschen Konzentrationslagern Inhaftierten entrichten mußten, sondern primär für den Sieg ihres Heimatlandes über den Feindstaat. Aus dem militärischen Sieg von 1945 gegen einen deutschen Feind entwickelte sich dann auch erst nach dem 8. Mai – mit dem Bezug auf Auschwitz – der zweite, der moralische Sieg. Dieser zweite Triumph sollte sich noch bedingungsloser, noch absoluter darstellen als der erste, denn er ließ aus dem Sieger einen Erretter werden, der nicht den Feind, sondern das Böse bezwungen hat. Diese überzeugende Deutung vermochte sogar dafür zu sorgen, daß der deutsche Bundeskanzler sich als Vertreter der Verlierermacht in die Reihen dieser Sieger einordnen mochte, womit Schröder schließlich diese Gut-Böse-Deutung für jedermann im befreiten Europa deutlich besiegelte. Wasser in diesen Wein gossen als einzige die Vertreter der baltischen Staaten. Der estnische und der litauische Regierungschef, die der Feier an der Moskwa fernblieben, noch mehr jedoch die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, die daran teilnahm und die feiernden weißen Ritter daran erinnerte, daß die Schlacht gegen das Böse doch so vernichtend nicht gewesen sein konnte, schließlich habe dieses noch mehr als vierzig Jahre in Gestalt des Völkergefängnisses Sowjetunion sein Wirken entfaltet. Diese trotzige Feststellung beraubte die Phalanx der Kriegsgewinner nicht nur ihres Anspruchs auf einen „heiliger Sieg“, es machte ihr auch noch den Nimbus moralischer Überlegenheit streitig. Klar ist, daß diese Haltung die Sieger verärgern mußte, noch mehr allerdings fordert sie die Opfer „des Bösen“ heraus, denn sie rührte am aggressiv verteidigten Status der „absoluten“ Opferrolle. Diese definierte sich daraus, der Verfolgung und Ermordung vom „absoluten“ Bösen ausgesetzt gewesen zu sein, und konnte über das „Täterland“ Deutschland hinaus inzwischen „als integraler Bestandteil eines neuen Erinnerungs-Narrativs“ in der gesamten westlichen Welt „installiert werden“, wie Jan Suhrmann in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft jüngst konstatierte. Sandra Kalnietes Erinnerung an die Opfer des Kommunismus muß unter diesem Vorzeichen verstanden werden. Letztes Jahr im März hielt Kalniete, damals noch lettische Außenministerin und designierte EU-Kommissarin des baltischen Erweiterungskandidaten, eine Rede anläßlich der Eröffnungsveranstaltung der Leipziger Buchmesse. Sie ging auf das ab dem 1. Mai 2004 anstehende größere Europa ein und forderte, daß mit der wirtschaftlichen und politischen Harmonisierung das gemeinsame kulturelle und auch historische Erbe angenommen werden sollte. „Über fünfzig Jahre ist die Geschichte Europas ohne unser Mitwirken geschrieben worden, und die Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges hat, wie typisch, jeden nach Gut und Böse, Korrekt und Inkorrekt eingeteilt.“ Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, so Kalniete, erhielten die Forscher Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten der Opfer aus dem östlichen Teil des Kontinents. Diese bestätigten, daß beide totalitären Systeme – Nationalsozialismus und Kommunismus – gleich kriminell seien und es deshalb „niemals eine Abstufung zwischen diesen beiden Philosophien“ geben dürfe. Salomon Korn verließ demonstrativ den Saal Man darf der vielleicht etwas unbedarften Lettin vorwerfen, daß es fahrlässig war, sich mit ihren Worten im Minenfeld der Gedächtnispolitik ausgerechnet in Deutschland derart gewagt zu positionieren. Der Rubikon war auf jeden Fall überschritten, das Faß mit der Aufschrift „Relativierung“ war geöffnet worden. Für alle Anwesenden in Leipzig wies der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Salomon Korn, auf dieses Faktum hin, indem er demonstrativ den Saal verließ. Den Rest erledigten die Feuilletonisten und politischen Kommentatoren, um fast einhellig die Forderung Kalnietes auf der Klaviatur von „unsäglich“ bis „unerträglich“ in Grund und Boden stampften. Die seismischen Wellen dieser Erschütterung waren sogar stark genug, um in Brüssel und Riga wahrgenommen zu werden, wo dann wenige Monate darauf die „grobe Unschuld aus dem Osten“ (FAZ) für den Kommissariatsposten des EU-Neumitglieds Lettland nicht mehr durchgesetzt werden konnte. Freilich wollte sie nur einen kleinen Teil dazu beitragen, daß die Geschichte der Osteuropäer nicht aus der „Gesamtgeschichte Europas“ ausradiert bleibt, daß diese nicht „einseitig, unvollständig und unehrlich“ bleibt. Wie sehr der von Kalniete aufgeworfene Mißstand auf Europa lastet, brachte Sonja Margolina in der Neuen Zürcher Zeitung am 29. März auf den Punkt. So sei der anbahnende „Wettbewerb der Erinnerungen“ als schwere europäische Hypothek nur aufzulösen, wenn die „eifersüchtige Verteidigung des eigenen Opferstatus, das Verlangen nach höchster Gerechtigkeit“ von allen beendet wird, um nicht „eine schlechte Unendlichkeit von Ungerechtigkeiten zu nähren“. Margolina kritisierte dabei den „‚Opferkult‘ der Vertriebenen sowie der kleinen Nationen im Osten“ ebenso wie die Vertreter der These von der Einmaligkeit des Holocausts. Seltsamerweise mußte erst die Anmahnung der das europäische Parkett betretenden Balten auf ihren „Opferstatus“ diese weise Gewißheit der jüdischstämmigen Russin reifen lassen. Einen kleinen Beitrag haben Kalnietes „Ballschuhe im sibirischen Schnee“ dazu geleistet. Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Herbig-Verlag, München 2005, gebunden, 352 Seiten, 22,90 Euro Zellenfenster eines Straflagers in Sibirien (um 1950): Aus der europäischen Geschichte ausradiert
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