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Marc Jongen, ESN Fraktion

In den Schubladen lagen keine Pläne

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Die deutsche Wiedervereinigung ist knapp 16 Jahre nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes unaufhaltsam auf dem Weg ihrer Historisierung. Dieser Tage stellte Helmut Kohl den Band seiner Erinnerungen vor, der auch die entscheidenden Wochen und Monate in den Jahren 1989/1990 umfaßt. Die Kohlschen Erinnerungen sind ohne Frage das Gewichtigste, was von deutscher Seite zu diesem Thema vorgelegt werden kann. Ob auch das Ergiebigste, muß sich allerdings erst noch zeigen. Der ehemalige Spitzendiplomat Claus J. Duisberg hat jetzt ein Buch vorgelegt, in dem er seine Sicht auf die Zeit der Wiedervereinigung darlegt. Er bezeichnet diesen schicksalhaften Zeitabschnitt zu Recht als „Das Deutsche Jahr“ und hat den Begriff zum Titel seines Buches erhoben, mit dem er „Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990“ geben will. Duisberg bringt für dieses Vorhaben die allerbesten Voraussetzungen mit. In den entscheidenden Monaten stand er als Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt zwar selten im Rampenlicht, war aber an allen wichtigen Ereignissen und Verhandlungen auf dem Weg zur Einheit unmittelbar beteiligt. Später, nachdem die staatliche Einheit erreicht war, verantwortete Duisberg die Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Deutschland. Der Autor stellt von Anfang an klar, daß es ihm nicht um eine wissenschaftliche Aufarbeitung sondern um die Schilderung seiner subjektiven Erlebnisse geht – und diese sind reichhaltig genug. Duisberg ruft mit seinen teilweise atmosphärisch angereicherten Schilderungen noch einmal ins Bewußtsein, wie aus dem Rinnsal der ersten Botschaftsflüchtlinge im Sommer 1989 ein reißender Strom wurde, der das SED-Regime, die DDR selbst und ebenso alle Versuche, die Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken, in einem atemberaubenden Tempo mitriß. Der Bogen, den Duisberg spannt, reicht vom Staatsbesuch Honeckers im Jahr 1987 in Bonn über die ersten Flüchtlinge in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin bis hin zum Abzug der letzten russischen Truppen aus Deutschland. Gerade die Verhandlungen mit den Russen verlangten Duisberg einiges ab: „Ich meine, daß ich in diesen Jahren mein Lebensquantum an Wodka getrunken habe.“ Er ruft beim Leser die bewegenden Augenblicke jener Zeit in Erinnerung, die auch heute noch geeignet sind, für Gänsehaut zu sorgen: etwa die Szene auf dem Balkon der Botschaft in Prag, als Außenminister Hans-Dietrich Genscher den DDR-Flüchtlingen die Ausreise verkündete. Duisberg begleitete anschließend einen jener Züge, mit denen die Flüchtlinge in die Bundesrepublik ausreisen konnten. Er schildert die Beklemmung, die in den Waggons herrschte, als die Züge – wie vom wankenden Regime gefordert – über das Gebiet der DDR in den Westen rollten. Diese Bedingung führte dazu, daß sich Tausende Ausreisewillige DDR an der Strecken versammelten, und beschleunigte so letztendlich den Zusammenbruch der Diktatur in Mitteldeutschland. Duisberg macht keinen Hehl daraus, daß die Bundesregierung von dem raschen Zusammenbruch der DDR überrascht war und daß mitnichten Pläne für eine Wiedervereinigung in den Schubladen der Bonner Ministerien lagen. Doch auch wenn dem so gewesen wäre: Seine Erinnerungen machen deutlich, daß derartige Pläne ungelesen in die Archive gewandert wären. Die Monate von Sommer 1989 bis Herbst 1990 zeigten eindrucksvoll, daß sich Geschichte nicht an Pläne hält. Sie zeigten aber auch, daß durch entschlossenes Handeln Geschichte beeinflußt und beschleunigt werden kann. In diese Kategorie fallen die von Kohl am 23. November 1989 präsentierten „zehn Punkte“, mit denen der Kanzler auf die Krise in der DDR reagierte, instinktsicher die Initiative ergriff und die Wiedervereinigung zum Mißfallen nicht nur Frankreichs und Großbritanniens endgültig auf die Tagesordnung der Weltpolitik setzte. Auch jenseits aller zeitgeschichtlichen Bedeutung geben die Schilderungen interessante Einblicke in die Abläufe des damaligen Regierungshandelns. Dabei verwundert es nicht, daß häufig die amtliche Sicht der Dinge wiedergegeben wird. Dieses trifft auch auf die umstrittene Frage der „Bodenreform“ zu. Duisberg rechtfertigt die unterbliebene Rücknahme der Enteignungen mit dem Hinweis, in der Geschichte gebe es „keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“. Dennoch leisten seine Erinnerungen einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Wiedervereinigung, der in künftigen wissenschaftlichen Werken seinen Niederschlag finden wird. Claus J. Duisberg: Das deutsche Jahr. Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. wjs Verlag, Berlin 2005, 392 Seiten, gebunden, 24,90 Euro Foto: George Bush, Eberhard Diepgen, Michail Gorbatschow und Helmut Kohl (v.l.n.r.) bei Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls 1999: Die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung gesetzt

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