Als Luther 1546 starb, war der größte Teil des Reichs evangelisch. Dasselbe traf auch für die angrenzenden Gebiete zu. Besonders stark war das neue Bekenntnis in Skandinavien und in Ungarn, aber auch in Polen, Oberitalien und im Westen Frankreichs hatten sich viele der Reformation angeschlossen. Zwanzig Jahre später war die Lage dramatisch verändert. Die Evangelischen hatten überall an Boden verloren. Dafür gab es politische und militärische Gründe, aber nicht nur. In der nachträglichen Betrachtung wird deutlich, daß der Protestantismus überall da weichen mußte, wo er nicht mit der Sprache Luthers – dem Deutschen – verbunden war, und in Deutschland selbst die meisten Positionen aufgeben mußte, die im alten Limesland lagen. Die Tatsache, daß das geschlossene evangelische Gebiet im wesentlichen auf die norddeutsche Tiefebene und das angrenzende Terrain beschränkt wurde, erscheint im Hinblick auf die Wirkung kultureller Faktoren „langer Dauer“ ebenso plausibel wie die Spaltung der Reformation in einen lutherischen und einen zwinglianisch-calvinistischen Zweig, je nachdem, ob die Konfession in den entstehenden fürstlichen Flächenstaaten angenommen wurde oder in jenen ober- und westdeutschen Territorien, die aus anderer Tradition an ihren freibäuerlichen und freibürgerlichen Ordnungen festgehalten hatten. Daß es nicht gelingen werde, wie er ursprünglich gehofft hatte, die ganze Kirche zu reformieren, ahnte Luther an seinem Lebensabend, aber es fiel ihm schwer, daraus Konsequenzen zu ziehen. Dem irenischen Kurs seines Freundes Philipp Melanchthon, der zu einer sehr weitgehenden Annäherung an die alte Kirche bereit war, stand er mit Mißtrauen gegenüber. Die Konfessionskriege, die bis ins 17. Jahrhundert andauerten, haben das Ihre dazu getan, daß es bei der Glaubensspaltung blieb. Sie verfestigte sich noch dadurch, daß die katholische Seite, in Unruhe versetzt durch die Erfolge der Evangelischen, mit einer Reform an Haupt und Gliedern begann, die nur unzureichend als „Gegenreformation“ beschrieben wird. So hat die Versteifung auf das, was evangelisch war, und das, was katholisch war, bis ins 20. Jahrhundert die Mentalität der Deutschen geprägt, hat Loyalitäten bedingt und weitgehende politische Entscheidungen ausgelöst. Die Nationalbewegung hat zwar versucht, die Differenz in sich aufzuheben zugunsten eines neuen größeren Ganzen, aber die gegenseitigen Affekte blieben bis ins 20. Jahrhundert so stark, daß der Widerwille gegen die andere Konfession ähnliche Massivität erreichen konnte wie der gegen die Juden. Daran hat auch die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates wenig ändern können. Er stand im Zeichen der „drei großen P“: Preußisch – Protestantisch – Progressiv. Das Selbstbewußtsein gerade führender Schichten des deutschen Bürgertums speiste sich aus der Vorstellung, auf der Seite des geschichtlichen Fortschritts zu stehen, gegen „Reaktion“ und „Dunkelmännertum“, die durch das Haus Habsburg und den Katholizismus verkörpert wurden. Allerdings muß man zugeben, daß das „protestantische“ Element in diesem Selbstverständnis schon sehr verdünnt war. Seit der Aufklärung und der Entstehung einer historisch-kritischen Methode der Bibelexegese hatte der evangelische Glaube angefangen, sich im Säurebad des Positivismus aufzulösen oder zu einer unverbindlichen Form persönlicher Sittlichkeit abzubauen, die in Jesus einen „Gottsucher“ unter vielen sah. Selbst die großen liberalen Protestanten am Ende des 19. Jahrhunderts standen ratlos vor der Frage, welchen Weg das evangelische Christentum in Zukunft noch nehmen könnte. Im Prinzip standen drei Möglichkeiten zur Auswahl: die Fortsetzung in der eingeschlagenen Richtung, hin zu einem individualisierten Kulturchristentum, dann der Versuch, die Bestände zu verteidigen und eine wie immer geartete Orthodoxie zu etablieren, schließlich der Versuch, an die großen weltanschaulichen Tendenzen der Zeit – vor allem Nationalismus und Sozialismus – anzuschließen und sie im Sinne eines „neuen Mythus“ (Artur Bonus) religiös umzuwerten. Von diesen drei Möglichkeiten ist die letzte durch die politische Entwicklung weitgehend diskreditiert, und die zweite erscheint heute ganz wirklichkeitsfern, da die kirchlichen Milieus seit dem Ende des Ersten Weltkriegs fast vollständig abgeschmolzen sind. Bleibt die erste, die auch insofern einiges für sich hat, als die persönliche Gottesbeziehung zu den zentralen Forderungen des evangelischen Glaubens gehört. Und wenn Protestanten befragt werden nach dem Kern ihres Bekenntnisses, dann kommt, wenn auch sonst nichts, diese Vorstellung zutage: Ich kann glauben, was ich will, da hat keine (Amts-)Kirche hineinzureden. Das ist selbstverständlich eine Karikatur dessen, was Luther unter „Freiheit eines Christenmenschen“ verstand, aber doch einigermaßen populär. Zumal diese Schwundstufe des Protestantismus einen Ausgleich mit den Haupttendenzen des modernen Lebens ermöglicht: für die Gemeindeglieder insofern, als sie kaum irgendwelche Restriktionen, etwa moralischer Art, fürchten müssen, für die Kirchenleitung insofern, als sie die Möglichkeit hat, „vorn mitzuspielen“ (Arnold Gehlen), das heißt sich mit allen möglichen, aber nicht mit genuin theologischen Fragen zu befassen, die eine notwendige Differenz des Christentums zur Gegenwart offenbaren könnten. Wenn man der tiefen geistlichen Leere innewird, die hinter dem Betrieb des offiziellen Protestantismus steht, dann versucht man sie hektisch aufzufüllen. Die eigenen Traditionsbestände scheinen dafür so wenig zu taugen, daß man es wahlweise mit Fremdreligiösem, dezidiert Heidnischem oder Katholischem versucht. Die Übernahme fernöstlicher Meditationspraktiken, die seltsame Kultpraxis feministischer Theologie und die seit längerer Zeit beobachtbare Begeisterung für farbige liturgische Gewänder und Osternachtsfeiern sprechen für sich. Soweit der deutsche Protestantismus überhaupt noch religiös interessiert ist, hat er synkretistischen Charakter angenommen. „Synkretismus“ war aber lange Zeit der Generalvorwurf der Evangelischen an die Katholiken. Der Theologe Friedrich Heiler hat daraus sogar so etwas wie eine Generaldifferenz zwischen beiden Konfessionen gemacht. Er hat den Unterschied zwischen beiden auf die Formel gebracht: das „lautere Evangelium“ hier, die complexio oppositorum dort. Heiler lehrte Religionswissenschaften und gehörte ohne Zweifel zu den einflußreichsten Köpfen des Protestantismus im 20. Jahrhundert. Allerdings ist für seine Lehre nicht ohne Belang, daß er ursprünglich Katholik war und erst als erwachsener Mann zum Protestantismus übertrat. Er hat diesen Schritt aus einem Bedürfnis nach religiöser Ehrlichkeit vollzogen, das immer zu den tiefsten Antrieben des evangelischen Glaubens gehörte, aber er blieb doch wachsam gegenüber den Defiziten seiner neuen geistlichen Heimat. In einem 1920 gehaltenen Vortrag, der zu seiner Zeit großes Aufsehen erregte, sprach er über das Thema „Evangelische Katholizität“ und legte noch einmal die Schwächen des Katholizismus dar – seine autoritäre Struktur, seine Enge, seine Neigung zur Repräsentation und zur Veräußerlichung -, stellte dem aber ausdrücklich die Schwächen des Protestantismus gegenüber: seinen unklaren Kirchenbegriff, seine Unfähigkeit, Grenzen zu ziehen, seine Ignoranz gegenüber der Form. Was Heiler vorschwebte, war ein neues „Kirchenideal“, also „eine Kirche, deren Seele evangelisch und deren Leib katholisch ist“. Das waren Vorstellungen, die auf wütende Abwehr, aber in einem Teil des Protestantismus auch auf erhebliche Resonanz trafen. Die liturgische Bewegung der zwanziger Jahre, die Gründung des „Berneuchener Kreises“, dann der Michaelsbruderschaft und anderer Kommunitäten waren Teil eines Projekts, jene „evangelisch-katholische Kirche“ zu schaffen, von der Heiler gesprochen hatte. Die Bereitschaft zur Annäherung an Rom war dabei unterschiedlich stark, ging aber bei manchen Vertretern sehr weit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das besonders deutlich an den Bemühungen von Wilhelm Stählin und Hans Asmussen um eine Ökumene im Vollsinn des Wortes; beide ahnten auch schon, daß die Reserven an Kirchenbindung im Protestantismus auf Dauer nicht reichen würden. Stählin, immerhin Bischof der oldenburgischen Landeskirche, sprach schon in den fünfziger Jahren offen vom „Ende des Protestantismus“. Von diesen Bestrebungen ist heute praktisch nichts geblieben. Aber die einmal aufgeworfenen Fragen sind keineswegs beantwortet, die Schwierigkeiten nicht behoben. Vielmehr setzt sich eine Entwicklung fort, die stetig auf die Entchristianisierung Deutschlands und Europas zuläuft. Der Part, den die evangelische Seite dabei übernehmen dürfte, wird der der stärkeren Anpassung an die Gegebenheiten sein, damit verknüpft eine Fortdauer der Organisation auf unbestimmte Zeit bei immer weiter schwindender religiöser Substanz. Die Antwort auf katholischer Seite ähnelt in Deutschland durchaus der evangelischen, wenn auch gemildert oder sogar korrigiert durch das Eingreifen Roms. Dort war man schon unter dem letzten Pontifikat entschlossen, Widerstand gegen die Zeit zu leisten, und daran dürfte sich unter dem neuen Papst nichts ändern. Botho Strauß hat Joseph Ratzinger bei Gelegenheit den „Nietzsche des 20. Jahrhunderts“ genannt. Was auch immer das im einzelnen bedeuten mag, soviel steht fest: Als Benedikt XVI. wird er eine Linie fortsetzen, die sich gegen alles richtet, was den säkularisierten Eliten lieb und teuer ist. Das wird im besten Fall seine Anziehungskraft auf die ernsthaften Geister nicht verfehlen, die die „Diktatur des Relativismus“ als unerträglich empfinden und deren Bereitschaft wächst, sich mit den eigentlichen Gefahren für die Fortexistenz Europas auseinanderzusetzen. Ob der neue Papst darüber hinaus zum Symbol des Christlichen überhaupt wird in einer Gesellschaft, die vom Christlichen immer weniger wissen will, steht noch dahin. Sollte das der Fall sein, dürfte sich die Menge der gangbaren Wege reduzieren; es ist nicht auszuschließen, daß sie alle nach Rom führen. Dr. Karlheinz Weißmann , Jahrgang 1959, Historiker und Studienrat, unterrichtet Geschichte und Religion an einem Gymnasium.