Einen Vergessenen kann man ihn eigentlich nicht nennen. Felix Hartlaubs kurzes Leben wurde bereits mehrfach erzählt, eine wissenschaftliche Biographie über ihn gibt es allerdings bislang noch nicht. Dabei eignet sich gerade diese schillernde Persönlichkeit für eine Wiederentdeckung. Hartlaub war nicht nur ein „hochrangiger Prosaist“ (Hans J. Schütz) und satirischer Geschichtenerzähler, sondern als Sachbearbeiter am offiziellen „Kriegstagebuch“ des Führerhauptquartiers wie kaum ein anderer prädestiniert, Einsichten in die jüngere deutsche Zeitgeschichte aus eigenem Erleben zu schildern. Felix Hartlaub wird am 17. Juni 1913 als Sohn des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Hartlaub in Bremen geboren. Ein Jahr später zieht die Familie nach Mannheim um. Der Vater übernimmt hier die Leitung der Städtischen Kunsthalle. Früh äußert sich die künstlerische Begabung des Jungen, schon als Dreijähriger deklamiert er Gedichte, und als sein Vater 1921 die Ausstellung „Der Genius im Kinde“ präsentiert, finden sich darunter auch Bilder von Felix. Nachdem er zunächst das Städtische Gymnasium besucht, schicken die Eltern den Fünfzehnjährigen auf die als besonders fortschrittlich geltende Odenwaldschule in Heppenheim. Für die dortige Theatergruppe verfaßt Felix das Bauernkriegsdrama „Der Bundschuh“ und das Stück „Der verlorene Gott“. Als er 1932 sein Abitur macht, hat er bereits drei Erzählungen geschrieben: „Kinderkreuzzug“, „Schlitters“ und „Die Reise des Tobias“. Während der Vater 1933 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben wird, weil er „entartete Kunst“ ausgestellt hat, beginnt Felix nach einer längeren Studienreise durch Frankreich und Italien in Heidelberg und Berlin Romanistik, Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren. Kurzfristig schließt er sich sogar der SA an, ist jedoch gleichzeitig mit den Söhnen des später in Buchenwald ermordeten Soziologen Maurice Halbwachs befreundet, dessen Familie Hartlaub als Austauschschüler in Straßburg kennengelernt hatte. Auch die beiden Söhne werden schließlich als Widerstandskämpfer von der Gestapo umgebracht. Und noch ein anderer Aspekt aus Hartlaubs Privatleben verdient Beachtung. Seine einzige große Liebe, die zwanzig Jahre ältere Jüdin und Kommunistin Erna Gysi, ist die Mutter seines besten Freundes Klaus Gysi, des späteren DDR-Kulturministers und Vaters von Gregor Gysi. Ungeschminkte Bilder aus Pariser Bistros und Bordellen Hartlaub promoviert 1939 bei dem Militärhistoriker Walter Elze. Seine erstaunliche Dissertation, übrigens das einzige Buch, das Hartlaub zu seinen Lebzeiten je publizieren wird, trägt den Titel „Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto“. Noch im gleichen Jahr wird er zur Wehrmacht eingezogen, aber dank einer Intervention seines Doktorvaters nach einem kurzen Gastspiel bei einer Berliner Sperrballon-Einheit schon bald zur Historischen Archivkommission des Auswärtigen Amtes nach Paris versetzt. In seiner Freizeit entwirft er atemberaubende Momentaufnahmen der Metropole, beschreibt in langen Prosapassagen Stimmung und Atmosphäre einer besetzten Stadt und verfaßt Hunderte von Briefen, häufig mit Zeichnungen, ungeschminkten Großstadtbildern aus dem Milieu der Pariser Bistros und Bordelle. Als anonymer Flaneur besucht er die Großmarkthallen, spaziert stundenlang durch Montmartre und entlang der Seineufer, fährt kreuz und quer mit der Metro und beobachtet die schweigenden Menschen. All diese „überscharfen Prosaskizzen“ (Hans J. Schütz) schreibt Hartlaub jedoch nur für sich selbst, um der Langeweile und Einsamkeit zu entgehen, die seine Menschenscheu mit sich bringt. Im Mai 1942 wird Hartlaub zur kriegsgeschichtlichen Abteilung beim Oberkommando der Wehrmacht nach Berlin abkommandiert. Doch bereits wenige Wochen später wechselt er als historischer Sachbearbeiter in die Abteilung „Kriegstagebuch“ des Führerhauptquartiers Werwolf in Winnize in der Ukraine und schließlich in die Wolfsschanze im ostpreußischen Rastenburg. Die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber jene aus dem Führerhauptquartier, erschüttern Hartlaubs Position eines Beobachters im „Auge des Taifuns“ keineswegs. Manches erinnert gar an Ernst Jünger, auf jeden Fall gehören sie zu den wichtigsten Zeugnissen nicht-nationalsozialistischer Literatur aus der Zeit des Dritten Reiches. Neben einer Chronik des Zusammenbruchs enthalten sie messerscharfe Charakterporträts von Offizieren, Diplomaten und Politikern, die das Gesicht der Macht schonungslos demaskieren. Das Material für einen satirischen Roman schimmert unübersehbar hervor, wenn er schreibt: „Die erledigten alles prompt und spielend mit ihrer im Geschäftsleben erworbenen Routine, gaben präzise Auskunft, stellten Verbindungen her, hatten für jeden einen kleinen Bonbon, boten niemandem eine Angriffsfläche und taten im Grunde nichts; jeder Flakpimpf trug mehr zum Krieg bei als die! Dieses bedenkliche Kopfwiegen, wenn es schlecht stand, dieses Backenaufblasen, Schlafmittelchen, Appetitlosigkeit; der Brustton, mit dem ein Erfolg begrüßt wurde wie ein alter Schulfreund. Und diese tiefen Zukunftsblicke hinter der goldgefaßten Brille (…) Wenn es gutgeht, wird sich von hier aus zweifellos etwas Vorteilhaftes arrangieren lassen: Finanzierung der Ostgebiete, das Kreditwesen im Balkanraum. Warum soll man sich bei der Bewerbung nicht auf die Vertrauensstellung berufen, die man hier jahrelang bekleidet hat, als unentbehrlicher Berater des Chef-OKW in der Treibstoffrage zum Beispiel. Wenn es schiefgeht: ‚Ja, um Himmels willen, wir waren ja nur kleine ausführende Organe; was haben Sie denn gedacht?'“ „Fast zu allen Zeiten wünschte er sich eine Tarnkappe“ Anfang April 1945 wird Hartlaub zur Infanterie abkommandiert und soll sich bei einem in Berlin-Spandau stationierten Regiment melden. Auf dem Weg dorthin macht er noch einen Besuch bei Berliner Freunden in Nikolassee. Dann verliert sich seine Spur. Er trifft nie in Spandau ein und gilt seitdem als vermißt. Fünf Jahre später erscheinen, herausgegeben von seiner Schwester Geno Hartlaub, die Tagebücher unter dem Titel „Von unten gesehen. Impressionen und Aufzeichnungen des Obergefreiten Hartlaub“. 1955 erscheint „Im Sperrbezirk. Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg“. Texte von Hartlaub, Auszüge aus den Tagebüchern und Briefen werden in den fünfziger Jahren in der Neuen Rundschau, im Merkur, in Akzente und in Texte und Zeiten publiziert, die „Tagebücher“ in einer erweiterten Ausgabe 1984 noch einmal neu aufgelegt. 2002 erscheint unter dem Titel „In den eigenen Umriß gebannt. Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945“, herausgegeben und kommentiert von Gabriele Lieselotte Ewenz, erstmals neben den literarischen Texten der vollständige Text seiner Kriegsaufzeichnungen und lange Zeit verschollen geglaubte Briefe. In der Einleitung zum „Gesamtwerk“ schreibt Geno Hartlaub: „Schon sehr früh zeigte sich bei ihm der Hang, unauffällig von der Szene zu verschwinden und dem Geschehen von der Kulisse her zuzuschauen aus dem entfremdeten Abstand jener, die nie ganz beteiligt sind. Fast zu allen Zeiten seines Lebens hat er sich leidenschaftlich eine Tarnkappe gewünscht, die sein sichtbares Schicksal auslöschen, ihn aber zum unbestechlichen Zeugen der Ereignisse machen sollte.“ Immerhin ist dies eine mögliche Erklärung dafür, daß er weder emigrierte noch zum militärischen Widerstand fand. Felix Hartlaub hatte es zeit seines kurzen Lebens nicht anders gesehen: „Ein Dichter bin ich übrigens nicht. Dazu fehlt mir die Menschlichkeit, die Wärme, der Schwung. Ich habe nur ein scharfes, oft überscharfes Auge und eine erstaunlich kundige und etwas ruchlose Imagination (…) Der heutige Dichter muß sich, scheint mir, dem Leben ausliefern, sich vielfältig blamieren und vergreifen, er darf keinen Wert darauf legen ‚Figur zu machen, Fuß zu fassen‘. ‚Wer sein Leben retten will, wird es verlieren‘, sagt das Evangelium.“