D aß der Sieger die Geschichtsbücher schreibt und damit die Deutungshoheit über die Vergangenheit ausübt, ist seit Jahrhunderten bekannt. Bezogen auf die preußisch-deutschen Ostprovinzen bedeutet das, daß sie zwar offiziell beim Kriegsende 1945 lediglich sowjetrussischer (nördliches Ostpreußen) und polnischer Verwaltung unterstellt, inoffiziell aber – die russische Exklave Kaliningrad einmal ausgeklammert – als integraler Teil eines erst noch zu schaffenden Staates betrachtet wurden, der dann „Volkspolen“ genannt wurde. Nur so läßt sich der Titel „Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949“ eines umfangreichen Buches erklären, das die polnische Historikerin Bernadetta Nitschke verfaßt hat. Ihre erste polnische Ausgabe der Studie von 1999 nannte sie ursprünglich „Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen in den Jahren 1945-1949“. Die Neuauflage von 2001 modifizierte diese Ungenauigkeit dann mit dem Titel „Aussiedlung oder Vertreibung? Die deutsche Bevölkerung in Polen in den Jahren 1945-1949“. In der deutschen Übersetzung von 2003 hat man auf das Fragezeichen schließlich verzichtet. Immerhin war das Buch dem Oldenburger Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, das nach 1989/90 seinen alten Namen „Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte“ eilfertig abgelegt hat, eine Übersetzung wert, die von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart gefördert wurde. Die, wie das Literaturverzeichnis ausweist, außerordentlich belesene Verfasserin weiß, wovon sie spricht, wenn sie den Staatsnamen „Polen“ in den Titel setzt, was der politischen Realität damals in keiner Weise entsprach – denn im Text selbst nennt sie das polnische Staatsgebiet, wie es bis 1939 bestand, das „eigentliche Polen“ oder „bisheriges Staatsgebiet Polens“ und die deutschen Ostprovinzen „unter polnische Verwaltung gestellte Gebiete“. Es ist also ein ideologischer Akt, den sie hier vollzieht und den man nur aus der kommunistischen Geschichtsschreibung bis 1989 kennt, zumal natürlich kein Schlesier oder Pommer „aus Polen“ geflohen ist oder vertrieben wurde. Im Vorwort beklagt Nitschke den – trotz demokratischer Verhältnisse – auch heute noch „beschränkten Zugang zu den Quellen“ in Polen, was schon die deutsche Journalistin Helga Hirsch bei der Abfassung ihres Buches „Die Rache der Opfer“ (1998) erfahren mußte, und behauptet: „Heute ist die deutsche Minderheit in Polen offiziell anerkannt“. Das entspricht zwar dem Wortlaut des Nachbarschaftsvertrags vom 17. Juni 1991, nicht aber der praktischen Umsetzung der Vereinbarungen, denn zweisprachige Ortsschilder sucht man beispielsweise in Oberschlesien noch im Jahr 2004 vergebens! Nitschke versteht ihre Arbeit als Summe aller bisherigen Bemühungen, die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat wissenschaftlich aufzuarbeiten. Schon daß sie den Begriff „Vertreibung“ – der auch nach 1989/90 in Polen noch verpönt war – benutzt, zeigt, daß sie einen Schritt weiter geht als ihre Vorgänger. In der Einleitung versucht sie daher auch, die bisherige polnische und deutsche Forschungsliteratur kritisch zu bewerten. Sie kennt die einschlägigen Veröffentlichungen, die bereits vor 1950 einsetzten, aber weniger wissenschaftlichen als politisch-apologetischen Zwecken dienten, nach dem Muster: „urpolnisches Land“ oder „wiedergewonnene Westgebiete“. Gelten läßt sie einzig Stefan Banasiaks Buch „Die Umsiedlung der Deutschen aus Polen in den Jahren 1945-1950“ (Lodz, 1969), das aber nur in sechzig sekretierten Exemplaren existierte und somit der Öffentlichkeit nicht zugänglich war, und schließlich die seit 1989/90 entstandenen Werke wie die von Maria Podlasek gesammelten Zeugenaussagen „Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße“ (Warschau, 1995) und Piotr Madajczyks Buch „Polnische Deutsche 1944-1989“ (Warschau, 2001). Sie hat sich auch in deutschen Archiven gründlich umgesehen, erwähnt die „wilden Vertreibungen“ vor der Potsdamer Konferenz vom Sommer 1945 und nennt das Ergebnis eine „katastrophale Bilanz“. Auf den letzten Seiten der Einleitung stehen dann die Sätze, die in „Volkspolen“ nicht hätten geschrieben werden können und die das Buch auch für betroffene Deutsche (Schlesier, Pommern, Ostpreußen) erträglich machen: „Die Deutschen wurden zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Zwang begleitet jede Form der Aussiedlungen.“ Die Autorin gliedert ihre Ausführungen in fünf Abschnitte, wobei der erste über „Bevölkerungsumsiedlungen“ nach dem Ersten und im Zweiten Weltkrieg sicher der entbehrlichste ist, weil er nur der Rechtfertigung polnischer Praxis nach 1945 dient und die deutsche Okkupation Polens zwischen 1939 und Anfang 1945 unausgesprochen als Präzedenzfall eigener Vertreibungspläne angesehen wird. Aussagekräftiger ist der zweite Teil über die „Bevölkerungssituation“ in den deutschen Ostprovinzen am Kriegsende, wobei auffällt, daß der im Buchtitel verwendete Begriff „Vertreibung“ in den Kapitelüberschriften und im Text selbst selten genug vorkommt, sondern durch andere Begriffe ersetzt wird wie „Evakuierung“ und „Zwangsaussiedlung“. Ein Paradebeispiel für vage Zahlenangaben sind die zwei Seiten zur „Evakuierung Ostpreußens“. Nitschke spricht hier von drei Fluchtwellen aus Ostpreußen 1944/45: im Juli/August 1944, im Oktober 1944 nach „Nemmersdorf“ und schließlich ab Januar 1945. Allein durch die ersten beiden Wellen 1944, die „stille Abwanderung“, hätte ein Drittel der Bevölkerung die Provinz verlassen. Bedauerlich nur, daß kein Ostpreuße je von dieser „stillen Abwanderung“ gehört hat. Dem Leser aber soll suggeriert werden, die Ostpreußen hätten schon im Sommer 1944 ihre Heimat innerlich aufgegeben. Man muß dieses umfangreiche Werk langsam und genau lesen, jeden Satz gewichten und jedes eingesetzte Zitat überprüfen, soweit das überhaupt möglich ist, um die Botschaft ausfindig zu machen, die es vermitteln will: Es geht um die Minimalisierung polnischer Vertreibungsverbrechen zwischen 1945 und 1949 gegenüber den deutschen Besatzungsverbrechen nach 1939. Schon das opulente Literaturverzeichnis suggeriert eher Vollständigkeit, als sie wirklich zu bieten. Es läßt Buchtitel vermissen, die nicht fehlen dürfen, zumal die Bibliographie offensichtlich für die deutsche Ausgabe überarbeitet worden ist. So wird Edmund Nowaks 1991 in Oppeln gedrucktes Buch „Der Schatten von Lamsdorf. Versuch einer Rekonstruktion der Geschichte des Arbeitslagers in Lamsdorf 1945-1946“ erwähnt, es fehlt aber das vor Jahrzehnten erschienene, aussagekräftigere Tagebuch des deutschen Lagerarztes Heinz Esser. Nicht genannt ist auch der Bericht „Schattenjahre in Potulitz 1945“, den Hugo Rasmus 1995 über ein polnisches Lager für Deutsche in Westpreußen veröffentlichte. Ebenfalls unbeachtet bleibt Helga Hirschs Buch „Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950“ (Hamburg 1998), das vor fünf Jahren Aufsehen erregte, weil hier Polen als Täter und Deutsche als Opfer auftraten. Man kann der Historikerin vielleicht ihre emotionalen Bindungen nicht vorwerfen und darüber klagen, sie habe ein polonophiles Buch geschrieben. Aber man wird erwarten dürfen, daß diese Gefühle nicht so übermächtig werden, daß polnische Täter wie Wladyslaw Gemborski und Schlomo Morel nur en passant erwähnt werden, zumal sie bis heute für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Hiermit sind noch längst nicht alle Schwachstellen des Buches benannt. Positiv ist anzumerken, daß dem deutschen Leser eine Reihe von polnischen Quellen zugänglich gemacht werden, über deren Auswahl und Bewertung er aber leider nicht mitreden kann. Auch mit der Wortwahl für historische Vorgänge wie „Wanderungsbewegung“, „Menschentransfer“ oder „Bevölkerungsverschiebung“ kann man sich nicht einverstanden erklären: Hierfür steht in der deutschen Nachkriegsgeschichte der präzise Begriff „Vertreibung“. Dieses Buch ist mithin der anfechtbare Versuch, die 1945 erfolgte Annexion eines Viertels deutschen Staatsgebiets fast sechzig Jahre später historisch-ideologisch zu legitimieren. Foto: Blick vom Rathausturm auf die Marienkirche und die wiederaufgebaute Danziger Altstadt, 1953: „Menschentranfers“ legitimieren Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. Oldenbourg Verlag, München 2003, gebunden, 392 Seiten, 34,90 Euro