Die systematische Auseinandersetzung mit Leben und Werk der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger schreitet stetig voran. Ablesbar ist dies unter anderem daran, daß mittlerweile drei Publikationsreihen vorliegen, die sich ausschließlich der Erforschung des Jünger-Kosmos widmen. In Frankreich, wo Ernst Jünger intensiver gelesen und studiert wird als in Deutschland, publiziert das Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger mit Sitz in Montpellier die Reihe „Les Carnets“, die von Danièle Beltran-Vidal betreut wird und mittlerweile bei Band 7 angekommen ist. In Deutschland veröffentlicht der Freundeskreis der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger unter der Leitung von Günter Figal und Georg Knapp seit dem Jahre 2001 die Reihe „Jünger-Studien“, die die Referate des jährlichen Jünger-Symposiums in Wilflingen dokumentiert. Die Bände 1 („Prognosen“) und 2 („Verwandtschaften“) liegen bereits vor, Band 3 wird demnächst erscheinen. Und schließlich gibt es die in der Edition Antaios aufgelegte und von Tobias Wimbauer edierte Reihe „Das Luminar – Schriften zu Ernst und Friedrich Georg Jünger“. Die ersten beiden Bände zählen, jeder auf seine Art, jetzt schon zu den Meilensteinen der Jünger-Literatur. Wimbauers „Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers“ muß an dieser Stelle nicht mehr eigens erwähnt werden. John Kings Dissertation „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende? – Writing and Rewriting the first world war“ (bei der man sich nur fragt, warum der Untertitel nicht auch ins Deutsche übersetzt wurde) vergleicht erstmals die Original-WK1-Tagebücher Jüngers mit ihren späteren Be- und Umarbeitungen in den zahlreichen Auflagen der „Stahlgewitter“ und kommt dabei zu erstaunlichen Ergebnissen. Nun ist also der dritte Band des „Luminar“ erschienen: „Anarch im Widerspruch – Neue Beiträge zu Werk und Leben der Gebrüder Jünger“. Konzept des über 300 Seiten starken Sammelbandes ist es, Dokumente von Zeitzeugen, Nachdrucke schwer zugänglicher Texte und neue Studien miteinander zu kombinieren. Dieses „variatio delectat“-Prinzip führt dazu, daß man den Band ohne Ermüdungserscheinungen am Stück von vorne bis hinten lesen kann, was sich wahrlich nicht von jedem Sammelband sagen läßt. Von den vierzehn Beiträgen beschäftigen sich leider nur zwei mit Friedrich Georg Jünger – eine Tendenz, die man im gesamten Jünger-Schrifttum beobachten kann: Friedrich Georg Jüngers „Besatzung 1945“, der längste bislang unveröffentlichte Text des Autors, und Peter Bahns Schilderung der Begegnungen von Friedrich Georg Jünger und Friedrich Hielscher. Die Perspektive des Zeitzeugen eröffnen die Texte von Franz Schauwecker („Ernst Jünger“, erstmals erschienen 1926 in der Zeitschrift Stahlhelm ), Ludwig Alwens („Gespräch im Botanischen Garten. Eine Unterredung mit Ernst Jünger“, 1932) und Wilhelm Marquardt („Als Gefechtsläufer bei Ernst Jünger im Sommer 1918“, 1934). Vor allem Alwens Beitrag transportiert trotz seiner Kürze einen sehr lebendigen Eindruck Ernst Jüngers aus der Zeit des „Arbeiters“. Hier finden sich Bilder von der Unmittelbarkeit und Frische eines wiederentdeckten Filmdokuments: „Jünger ist kein sehr redseliger Mann. Er spricht seine Sätze nicht am laufenden Band, wie sie hier stehen, er ist, während er spricht oder schweigt, auch mit anderen Dingen beschäftigt, hebt eine Kastanie auf, um damit nach dem nächsten Baum zu zielen, oder er versucht neugierig eine ihm unbekannte Frucht, die offenbar bitter schmeckt, denn er spuckt sie wieder aus.“ Neben diesen Annäherungen an die Person stehen drei gewichtige Begegnungen mit dem Werk Ernst Jüngers, die das Rückgrat und den Wert des Bandes darstellen. Hier ist nicht der Ort, diese Beiträge en detail zu kommentieren. Eine erste Einordnung sei allerdings bereits gewagt. Der Carl Schmitt-Forscher Piet Tommissen hat in einem fünfzigseitigen Beitrag Entstehungsgeschichte, Publikationsfolge, Verbreitung und Resonanz der „Friedensschrift“ minutiös nachgezeichnet – sicherlich eine der komplexesten Aufgaben innerhalb der Jünger-Philologie. Die Arbeit, vom Verfasser bescheiden als „Versuch“ tituliert, geht weit über bisher Bekanntes, beispielsweise die Arbeiten von des Coudres und Loose, hinaus. Sie verfolgt und entwirrt das komplizierte Spurengeflecht und macht das Schicksal der vielzitierten Schrift lesbar. Dabei liest die Arbeit selbst sich spannend wie ein Kriminalroman. Tommissen weist am Ende seines Textes darauf hin, daß nun eine inhaltlich vergleichbar detaillierte Durchleuchtung der Friedensschrift notwendig wäre, gerade im Kontext späterer Jüngerscher Positionen, wie sie sich beispielsweise im „Weltstaat“ artikulieren. Von vergleichbarem Umfang ist Helmut Lethens Untersuchung „Jüngers Desaster im Kaukasus“. Hier geht es um die Begegnung und Konfrontation von Jüngers Haltung mit dem Geschehen an der Ostfront. Lethens Text enthält zahlreiche interessante Anregungen, fordert aber auch vielfach zum Widerspruch heraus. Anregend ist der Verweis auf die Cappricio-Tradition im Zusammenhang mit Jüngers „Strahlungen“ und ihrer Ästhetik des Schreckens, die Lethen recht ausführlich ausarbeitet. Ebenso überzeugt die Analyse der „Verschlüsselungsstrategien“, die Jünger ein uneigentliches Sprechen zum Leser hin ermöglichen. Allerdings zielt Lethens Untersuchung auch oder sogar primär darauf ab, Jüngers „Haltungen“, sein Bemühen um „Fassung“ und „Authentizität“ im Rekurs auf Norbert Elias und seine Theorie der „Satisfaktionsgesellschaft“ soziologisch zu relativieren und letztlich als überkommen, weil künstlich darzustellen. Damit treibt er einen Keil zwischen Werk und Autor, was einer Entschärfung gleichkommt und genau am Zentrum der Jüngerschen Identitätssuche vorbeizielt. Schade, aber dennoch lesenswert. Tobias Wimbauer selbst steuert schließlich zu diesem Band seine ebenfalls fünfzig Seiten starke Studie zu der „Burgunderszene“ aus Jüngers „Strahlungen“ bei („Kelche sind Körper. Der Hintergrund der Erdbeeren-in-Burgunder-Szene“). Auf den Leserbriefseiten der Frankfurter Allgemeinen wurde diese Arbeit und ihre zentrale These – die Burgunderszene sei fiktiv und verschlüsselt (JF 18/04) – in den letzten Monaten bereits intensiv diskutiert. Man sollte nicht so weit gehen, die Fiktionalität der Szene als Beleg für ihre Unanstößigkeit (wenn sie denn überhaupt anstößig ist) zu nehmen und die ganze Diskussion um Jüngers Ästhetizismus als Scheinproblem zu entlarven. Dies geht zu weit. Aber zweierlei hat Wimbauer mit viel Detailarbeit und Fingerspitzengefühl geleistet: Er hat erstens deutlich gemacht, wie feingliedrig motivisch verzweigt Jüngers Tagebücher sind und welche Bedeutungs – und Sinnebenen sich in ihnen eröffnen, wenn man den Allusionen einmal systematisch nachgeht. Hier steht die Jünger-Philologie noch ganz am Anfang. Und er hat zweitens gezeigt, daß sich ein genaueres Hinsehen bei Jünger allemal lohnt – selbst oder gerade dort, wo alles gesagt zu sein scheint. Dies sind gute Aussichten für die kommenden Bände des „Luminar“. Foto: Ernst und Friedrich Georg Jünger „Jede Besatzung unterliegt einem Gesetz der Anpassung, das wechselseitig wirkt“ (F.G. Jünger) Tobias Wimbauer (Hrsg.): Anarch im Widerspruch. Neue Beiträge zu Werk und Leben der Gebrüder Jünger. – Das Luminar: Schriften zu Ernst und Friedrich Georg Jünger, Band 3. Edition Antaios, Schnellroda 2004, brosch., 324 Seiten, 30 Euro. Dr. Alexander Pschera ist Germanist und arbeitet zur Zeit an einer Neuausgabe der Rivarol-Dissertation von 1938.
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