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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Mit dem Teufel im Bunde

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Zu den heute vergessenen, doch einst weitverbreiteten Schriften des berühmten russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjew zählt die „Kurze Erzählung vom Antichrist“. Seit er sie seinen Studenten in den späten Februartagen des Jahres 1900 vorlas, hat sie Tag für Tag an beklemmender Aktualität gewonnen. Er sah die blutigen Weltkriege der Völker voraus, den Einfall „der asiatischen Barbaren“ infolge Uneinigkeit der europäischen Staaten, „die alle nur an ihre Sonderinteressen dachten“, bis endlich im „einundzwanzigsten Jahrhundert ein Bund von Völkern, die alle mehr oder weniger demokratisch regiert werden, entsteht – die Vereinigten Staaten von Europa“. Äußere Wohlfahrt und Wirtschaft machten daraufhin erhebliche Fortschritte, doch die Religion verblaßte. Die Mehrheit der denkenden Menschen wurde ungläubig. Begriffe wie der „von einem Gott, der die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, wurden nicht einmal mehr in den Grundschulen gelehrt“. Kein Dogma hielt der Prüfung durch die Vernunft noch stand. Doch fehlt die Religion als Bindekraft der Gesellschaft, dann muß eine Zwangsgewalt her, die die Einheit wahrt. So hielten „die Lenker der Politik der europäischen Gemeinschaft, die dem mächtigen Bund der Freimaurer angehören“, Ausschau nach einem „Menschen der Zukunft“, dem, zum „Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt“, die zentrale Exekutivgewalt anvertraut werden konnte. Ihre Wahl fällt auf einen jungen, dreiunddreißig Jahre alten, jedoch wegen seiner vielgelesenen, geradezu genialen Schriften weithin anerkannten Menschen – „viele nannten ihn einen Übermensch“. Er selbst sieht sich als „zweiter Christus“, der aber in Wahrheit der rangmäßig erste, weil vollkommene und endgültige Erlöser ist, er, der wahre Wohltäter, der den Menschen alles gibt, was sie brauchen. Sein Vorläufer, geschichtlich der erste, jedoch noch unvollkommene Christus, trennte die Menschen durch die Unterscheidung von Gut und Böse, er aber, der neue Christus, läßt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Er droht nicht mit dem Jüngsten Gericht, sondern läßt Gnade walten, sein Gott fordert nicht Gehorsam bis zum Tod am Kreuz, sondern hat Verständnis für die unbegrenzte Freiheit und wird jedem angenehm sein. Schon nach einem Jahr sind die Keime des Krieges ausgerissen, ein letztes Mal tritt die Friedensliga zusammen, doch nur um dem großen Friedensbringer zu huldigen und ihn zum Weltmonarchen zu küren. Er schlägt seinen Sitz in Rom auf, denn wo wäre es angemessener, der neuen „Zivilreligion“ eine Heimstätte zu bieten? Systematisch wurde das Christentum „marginalisiert“, die Kirche in ein „archäologisches Museum“ verwandelt, der Papst aus Rom vertrieben und das Kreuz durch den Wohlstand um seine Kraft gebracht. In wenigen Jahren verminderte sich Zahl der Christen, einst weit mehr als eine Milliarde, auf fünfundvierzig Millionen. Ein beträchtlicher Teil der anglikanischen Kirche vereinigte sich mit der katholischen. Unter den Protestanten gewann religiöser Indifferentismus und Unglauben die Oberhand, die meisten fielen ab, nur wenige fanden in einem neubelebten Urchristentum Befriedigung ihrer Glaubensbedürfnisse. Auch die russische Orthodoxie verlor viele Millionen Mitglieder, doch trotz dieser Verluste fanden sich, wenn auch nur vereinzelt, bei ihr wie auch bei den anderen Bekenntnissen und Kirchen Zeugnisse tiefer Religiosität, hoher Gelehrsamkeit und neuer Kräfte des Geistes. Bereits vier Jahre nach Antritt seiner Herrschaft scheint die Zeit reif zur Vereinigung der Religionen. Der Weltkaiser beruft ein ökumenisches Konzil nach Jerusalem, der heiligen Stadt der abrahamitischen Hochreligionen, um sich dort auch zum geistlichen Führer küren zu lassen und so die als verhängnisvoll angesehene Trennung von Politik und Religion, Kirche und Staat aufzuheben. Über dreitausend Vertreter der Weltreligionen folgen seinem Ruf. Auf dem Konzil hält der Kaiser eine flammende Rede, in der er von den Vertretern der Weltreligionen seine Anerkennung als ihr geistliches Oberhaupt einfordert. Fast alle katholischen Bischöfe und auch die Repräsentanten der anderen Religionen anerkennen ihn, nur ganz wenige zeigen sich störrisch. Letztere verlangen vom Kaiser ein klares Bekenntnis zu Christus, doch der offenbart sich jetzt als der Antichrist, seit jeher mit dem Teufel im Bunde. Der Großmagier des Kaisers sorgt mit Donnerschlag und Kugelblitzen für die Auslöschung der meisten Widerstrebenden. Jene, die überleben, gehen in die Wüste. Der Kaiser läßt auf einem ad hoc einberufenen Konklave seinen Großmagier Apollonius, der in Indien geboren wurde, zum neuen Papst wählen, und noch am selben Tage unterzeichnen die Vertreter der Orthodoxie und der Protestanten eine Urkunde über die Vereinigung ihrer Kirchen mit der katholischen. Ein Sturm der Begeisterung über die endlich gelungene Vereinigung der Religionen erhebt sich, der durch die Freude über einen „Ablaß für alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden“ noch verstärkt wird. Die Erzählung endet mit einer Erhebung der Juden, die am Welterfolg des Jubelkaisers ja nicht unbeteiligt waren und seinen Versprechungen geglaubt hatten, er betrachte die Aufrichtung der Weltherrschaft Israels als seine Hauptaufgabe. Ihre Empörung bricht aus, als sie entdecken, daß der Kaiser nicht beschnitten ist. Ihre grenzenlose und glühende Verehrung, die sie dem Retter Israels und vermeintlichen Messias bisher entgegenbrachten, schlägt in ebenso grenzenlosen Haß um. Der überraschte Kaiser läßt Zehntausende von Juden und Christen hinmorden. Doch die Juden siegen dank eines Erdbebens, der Kaiser und seine Truppen gehen in einem Flammenmeer unter. Als die Juden, um zu danken, nach Jerusalem ziehen, zeigt sich ihnen Christus, der nun „für tausend Jahre“ – ein Ausdruck für die Ewigkeit – sein Regnum antritt. Auch ohne an Irak-Krieg, Völkerrechtsbruch und die religiös verbrämten, martialischen Bush-Reden zu denken, wird derjenige, der diese vor mehr als hundert Jahren geschriebene Erzählung liest, nicht umhinkönnen, aus den Auseinandersetzungen um die Europäische Union, ihre Gründungsgeschichte und Absichten, ihre Versprechen, für Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu sorgen – übrigens für Paulus immer ein sicheres Erkennungszeichen des Antichrist -, um ihre „Zivilreligion“ und Laizität, ihre Verfassung und Präsidentenschaft, um das Verschwinden der Nationen und um den Kampf der Kulturen seine Schlüsse zu ziehen. Seit ihrer Konzeption durch Graf Coudenhove-Kalergi, den noch vor Kriegsende konzipierten Entwürfen für die Nachkriegsordnung Europas, ihrer schrittweisen Verwirklichung über die Rom-Verträge bis hin zu Maastricht und dem Verfassungskonvent, erscheint dem Tieferblickenden die EU als eine Werkstatt des Antichrist, der Europa immer weiter von seinen christlichen Wurzeln „befreit“. Dieses EU-Europa empfiehlt der Kirche die Abkehr von ihren „dogmatischen“ und „fundamentalistischen“ Positionen, mehr Toleranz in Fragen der Bevölkerungskontrolle, Kontrazeption, Abtreibung, Euthanasie, Genmanipulation, Ehescheidung, Anerkennung und Gleichstellung „eheähnlicher“ Partnerschaften, Verständnis und Wohlwollen für Homosexualität. Die Kirche wird zur Mitarbeit an einer „humanistischen Weltethik“ aufgefordert, zum Verzicht auf Zölibat oder Geschlechterdiskriminierung bei der Priesterweihe. Vor allem aber wird ihr der Ersatz ihrer hierarchischen durch „demokratische“ Strukturen nahegelegt. Sie soll sich endlich mit einer ähnlichen Stellung begnügen, wie sie anderen „humanistische Organisationen“ und „Tendenzbetrieben“, etwa von der Art der Liga für Menschenrechte, Amnesty International oder Greenpeace, innerhalb der EU eingeräumt wird. Ihren Anspruch, herrschendes „Lebensprinzip“ oder gar „Seele“ der gesamten menschlichen Gesellschaft zu sein und diese nach göttlichem Recht gestalten zu wollen, müsse sie aufgeben. Um künftig akzeptiert zu werden, habe sie sich mit dem Liberalismus zu versöhnen und auf ethische Vorschriften zu verzichten, die den Menschen zum ständigen Sünder stempeln und ihm die Freude am Leben nehmen. Schließlich lebten wir alle ja nur einmal. Mit dem Glauben an die Auferstehung zum ewigen Leben trösteten sich ja heute nur noch die wenigen, die mit dem irdischen Leben nicht fertigwerden oder zu wenig Spaß haben. Gibt es noch Rettung? Peter Handke, von dem eine solche Aussage kaum zu erwarten war, bringt die Antwort mit zwei Worten auf den Punkt: „Erneuern? Umkehren!“ Das liest sich leicht, ist aber das Schwerste. Umkehren? Den Weg zurückgehen, auf dem wir so hurtig „fortschritten“? War er ein Irrweg? Brachte er uns nicht Wohlstand, Bequemlichkeit, Demokratie, das Licht der Aufklärung, Freiheit und Mündigkeit? Gilt es sich also zu „erheben wider die moderne Welt“, wie das ja nicht nur der Kulturphilosoph Julius Evola, sondern auch die Pius-Päpste verlangten? Zurückgehen in die Wüste des Durstes, der Armut, der Plackerei und der Einfalt? Zurück also zu dem, den wir verlassen und aus den Augen verloren haben, dem redemptor hominis? Der versöhnliche Schluß der „Kurzen Erzählung“ deutet an, was uns nach dem Karfreitag der Geschichtsepoche, in der wir uns befinden, erwarten wird: der Ostermorgen des wahrhaft Auferstanden. Um ihn zu sehen, rät uns der Platon des Höhlengleichnisses, das Auge beizeiten an das Licht der Wahrheit zu gewöhnen.Foto: Geburt des Antichrist (Holzschnitt, 1475): Schon bei Paulus galt das Versprechen von Frieden und Wohlstand als Kennzeichen des Antichrist Univ.-Dozent Dr. Friedrich Romig lehrte Politische Ökonomie in Wien, Graz und Aachen. Er war Mitglied der Europakommission der Österreichen Bischofskonferenz und Europaberater von Bischof Krenn (St. Pölten).

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