Dem melodramatischen Film ist es in Deutschland bis heute nicht gelungen, sich zu einem Genre zu ordnen. Faßbinder hat es versucht, indem er sich an Douglas Sirks Meisterwerken orientierte, und mit „Angst essen Seele auf“ schon ziemlich nahe an sein großes Vorbild herankam. Um die Elementarmächte Angst und Sexualität geht es auch in Oskar Roehlers Film „Der alte Affe Angst“, der die Kritiker bereits auf den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Berlin in zwei Lager spaltete. Roehler stößt die Zuschauer bereits während des Vorspanns mitten in die intimsten Probleme eines jungen Paares hinein. Der Theaterregisseur Robert (André Hennicke) und seine Freundin Marie (Marie Bäumer), eine Kinderärztin, haben schon über ein halbes Jahr nicht mehr miteinander geschlafen. Robert hat seine Männlichkeit verloren, weil er in frühere Beziehungen alles investiert hat: Liebe, Leidenschaft, Vertrauen und Hingabe; und er ist natürlich immer enttäuscht, verraten und betrogen worden. Kein typischer Fall von männlicher Selbstüberschätzung also, sondern eher ein in seiner ekstatischen Monomanie längst völlig erkalteter Intellektueller. Nirgends wird dies deutlicher als in den Szenen, wenn Robert bei den Theaterproben ungerührt einer Gruppe junger Schauspieler zuschaut, die splitterfasernackt auf der Bühne agieren und im Chor „Uns ist kalt, wir haben Angst“ schreien. Aber während man für einen Moment geneigt ist, ihnen den guten Rat zu geben, sich etwas anzuziehen und dreimal täglich Valium zu nehmen, karikiert Roehler in diesen kurzen Szenen ketzerisch die arrogante, abstoßende Einstellung einer verschlissenen, abgestumpften Gesellschaft, die ihre eigenen Versprechen gegenüber Menschen wie Robert und Marie ständig bricht. Oskar Roehler zeigt den vergeblichen Versuch einer Frau, solch einen Mann zu retten. Selbst als Marie langsam dahinterkommt, daß Robert seine sexuelle Befriedigung vorzugsweise bei Prostituierten sucht, verdrängt sie diese Demütigung zunächst zugunsten der Aufrechterhaltung jener Aura einer hochstilisierten, künstlichen Ordnung, in der beide sich ebenso wohnlich wie unglücklich eingerichtet haben. Und selbst als ihre geradezu rührend anmutenden Verführungsversuche mit blonder Perücke, Strapsen und roten Dessous nicht den erwünschten Erfolg bringen, und Robert sich statt dessen gemeinsam mit einem durchgeknallten Freund mit Kokain zudröhnt, gibt sie die Hoffnung nicht auf. In ihrer neuen Wohnung richten sie Roberts todkrankem Vater, einem Schriftsteller, sein Zimmer ein, aber dann stirbt Klaus (Vadim Glowna) an Lungenkrebs. Spätestens jetzt fragt man sich, was für eine Geschichte hier eigentlich erzählt wird. Denn Roberts Drama ist die Suche nach der eigenen Männlichkeit, aber die gebeugten Schultern und der unsichere Blick zeigen den ewigen Jungen, der die lebenslange Abwesenheit der Vaterfigur immer noch nicht verkraftet hat. In ihrer Verzweiflung finden Marie und Robert für einen kurzen, glücklichen Augenblick endlich zueinander und zeugen ein Kind. So hat sich Marie ihr privates Glück ertrotzt, aber ihr Scheitern ist bereits in dem manischen Eigensinn angelegt, mit dem sie beide den Gemeinsinn kurzfristig geschlagen haben. In einer Peep-Show trifft Robert auf eine russische Prostituierte und schläft mit ihr. Als Marie den neuerlichen Betrug entdeckt, fährt sie mit ihm dorthin und identifiziert die Frau als die HIV-positive Mutter eines ihrer kleinen Krebs-Patienten aus der Kinderklinik. In Faßbinders Kino der Gefühle wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, Roberts neurotische Sexualität als eine in einem infantilen Zustand steckengebliebene Sexualität, eine Ich-Schwäche, die nicht die Kraft hat, eine normale Beziehung zu seiner Frau aufzunehmen, zu denunzieren. Aber Roehler ist in allem das Gegenteil eines naiven Filmemachers, und mit vulgär-psychologischen Deutungen hat er noch viel weniger am Hut. Dafür zeigt er uns die falschen Gleichungen zwischen Männlichkeit und Sexualität, zwischen Potenz und Vaterschaft, in der sich die Impotenz-Furcht des Mannes am heftigsten offenbart, und sogar die falsche Gleichung zwischen Treue und Verrat. Beim nächsten Ultraschall-Termin hat das Herz von Maries ungeborener Tochter aufgehört zu schlagen. Ein Traum ist zu Ende, eine Möglichkeit gestorben. So erscheinen die falschen Gleichungen schließlich als die Grundlagen einer Gesellschaft, die mit den extremen Gerechtigkeits- und Glücksutopien protestantischer Pfarrhaustöchter immer nur unglücklich kollidieren können. Marie schneidet sich ihre Pulsadern auf und wacht in der Psychiatrie wieder auf. Wie versteinert in seiner Ohnmacht wirkt in dieser Szene das Gesicht der Marie Bäumer, in dem sich der endgültige Verzicht auf Erfüllung und Harmonie widerspiegelt. Es ist ein Spiel von großer Ambivalenz, an dem uns Marie Bäumer („Sieben Monde“) und André Hennicke („So weit die Füße tragen“) teilhaben lassen. Die Kunst zweier Schauspieler vor dem Hintergrund der alltäglichen Schrecknisse einer Beziehung wird zum Schauspiel von raffinierter Authentizität. Wenn sich Marie und Robert in der Schlußszene auf einer sonnenüberfluteten Wiese an den Händen halten und sich unaufhörlich im Kreise drehen, möchte man ihnen wünschen, daß dieser Augenblick ewig dauert, und es ihnen gelingen möge, an die Kraft ihrer Liebe zu glauben und die Erinnerung ein für allemal zu besiegen. Sicher ist das aber keineswegs. Foto: Robert (André Hennicke) und Marie (Marie Bäumer): Traum von Glück, Harmonie und Erfüllung