Der ehemalige BDI-Präsident Hans Olaf Henkel hat zum Zeitpunkt, da das alte von der Bonner Republik geerbte Gesellschaftssystem ganz offensichtlich in die Phase andauernder Stagnation übergegangen ist, ein aufschlußreiches Buch mit dem Titel „Die Ethik des Erfolges“ geschrieben. Er setzt sich zunächst mit dem realen Erscheinungsbild der industriellen Gesellschaft im vereinten Deutschland in fast allen Facetten auseinander, die aufgrund des fehlenden Gleichgewichts nationaler Verantwortung und sozialer Interessen in den Zustand dieser lähmenden Stagnation übergegangen ist. Der dominierende Begriff des Sozialen hat sich als Staatsziel tendenziell zu einer parasitären Anspruchsgesinnung gewandelt. Er ist nicht unwesentlich das Ergebnis jener vom „Neuen Liberalismus“ der FDP 1971 mit den „Freiburger Thesen“ während der sozialliberalen Koalition im Geiste der 68er in Gang gesetzten „Befreiung“ des Individuums. In diesen Thesen manifestierten sich vor allem Dahrendorfs Ideen einer Konfliktgesellschaft, welche die Pluralität des Wettbewerbs sozialer Gruppen zum gesellschaftlichen Hauptmotiv gemacht hat. Die dadurch geförderte Egogesellschaft hat seitdem ihren synergetischen Zusammenhalt und ihre Leistungsmotivation weitgehend verloren. Das verantwortungsbewußte Wir, welches die Aufbaugeneration noch beseelte, ging vollends verloren. Ludwig Erhard könnte deshalb heute sein Wirtschaftskonzept nicht mehr zum Erfolg führen. Seine damals schon mahnende Perspektive, mit einer gesellschaftlichen Neuordnung unter der Bezeichnung „formierte Gesellschaft“ die Anspruchsgesinnung wieder ins Gleichgewicht staatlicher und gesellschaftlicher Pflichten zu bringen, ist nun aktuell geworden. Die politische Klasse der Aufbauzeit hatte jedenfalls noch eine klare Ahnung davon, wohin das Ungleichgewicht sozialer Gerechtigkeit im Verhältnis zur fehlenden nationalen Verantwortung führen wird. Ihren Mitgliedern war bewußt, daß die besatzungskonforme Struktur des Grundgesetzes als Übergangsverfassung diese Schieflage begünstigt! Das Credo der sich nach 1968 durchsetzenden linksliberalen Verfassungswirklichkeit – „Du bist alles, Dein Volk ist nichts“ – verstärkte auf diese Weise den gesellschaftlichen Niedergang. Anstatt diese von den Nazis in Gang gesetzte Dialektik der Extrempositionen des „Ich“ und des „Wir“ in einer republikanischen Synthese aufzuheben, sind wir beim individualistischen Extrem gelandet. Eine tolle intellektuell-dekonstruktive „Leistung“ im Sinne jener „Kritischen Theorie“, die sich mit den Kategorien der gescheiterten marxistischen Revolutionstheorie anmaßt, nun als nihilistische Gesellschaftskritik jede rekonstruktive Aufhebung unter Faschismusverdacht zu stellen. Da die politische Klasse seit Ende der sechziger Jahre – bis auf wenige Ausnahmen – dazu übergegangen ist, ebenfalls in diesem Sinne nationale Verantwortung nur in der negativen Form einer vom 8. Mai 1945 ausgehenden Bußgesinnung uns zu vermitteln, fehlt dem demokratischen Staat die einer Republik an sich innewohnende integrative Kraft der identischen Selbstbehauptung ihres Staatsvolkes. Ihre Parole lautet deshalb „gegen Rechts“ und nicht gegen die Extremismen von rechts und links. Es gehört zu den gravierenden Denkfehlern unserer Nachkriegsgeschichte, wenn in der Öffentlichkeit immer noch eine besatzungskonforme Schlußfolgerung vorherrscht, die traditionell nicht in der Lage ist, zwischen Nationalismus und nationaler Verantwortung in der politischen Praxis zu unterscheiden. Henkel nennt diese traumatische Schlußfolgerung die „Erbsünde“, die nach seiner Meinung auf der „Couch“ geheilt werden muß. Aber ist es nicht so, daß wir alle von der Couch endlich runter müssen, auf welcher das Trauma wachgehalten wird? Man muß schon Bundeskanzler Schröder dankbar sein, wenn er am 8. Mai 2002 sich trotz der einflußreichen „Psychoanalytiker“ in den Medien von der „Couch“ herunterbegeben hat, um mit Martin Walser über den Begriff der Nation zu diskutieren. Wenn man Henkels Kritik in ihrer logischen Konsequenz ernst nimmt, dann kann das nur heißen, daß wir einerseits unsere Republik national rekonstruieren müssen, um andererseits zu einer nationalen Ökonomie neuen Typs zu kommen, die auf den globalen Wettbewerb ausgerichtet ist. Es fällt auf, daß Henkel den gesellschaftlichen Niedergang einseitig fokussiert. Die analogen Erscheinungen auf einigen Vorstandsetagen unserer Industrie werden nicht weiter beleuchtet. Es macht sich gerade hier teilweise eine zentrifugale Freibeutergesinnung mit dem Argument des Globalisierungszwanges von Arbeit und Kapital breit, dem der strukturell und verfassungsrechtlich paralysierte Sozialstaat kein Paroli bieten kann. So können technokratische Vorstände über Insolvenzen, feindliche Übernahmen oder bei totalem Aktienstreubesitz ihr Unternehmen an der Börse dem global vagabundierenden Spekulationskapital oder der eigenen Selbstbedienung ausliefern. Ein Beispiel von vielen dürfte der untergegangene Anlagenbauer Babcock sein, dessen Vorstandschef sich auf die schnell noch „globalisierte“ Tochter HDW retten konnte. Henkel kritisiert einerseits die leistungsschwächenden und innovationsverhindernden Einstellungen eines gesellschaftlich-pluralistisch überregulierten Systems, das aus dem eindimensionalen „Neuen Liberalismus“ unter der Schirmherrschaft der „Erbsünde“ als sogenannte „Soziale“ Marktwirtschaft hervorgegangen ist, andererseits will er kritiklos gegenüber den ursächlichen, inzwischen betonierten Denkstrukturen der dogmatisierten Aufklärung uns mit dem ideologischen Heilmittel einer prinzipiell überhöhten Globalisierung aus diesem Sumpf retten. Henkels Credo lautet deshalb: „An erster Stelle kommt der Mensch, und alle anderen Gesichtspunkte, seien sie politischer, ökologischer oder ideologischer Natur, müssen hinten anstehen. Die Globalisierung aber schenkt ihm die Freiheit, nicht nur ein durch Geburt und Milieu definiertes Tierwesen zu sein, sondern ein Weltbürger, der Anspruch hat, gemäß den Menschenrechten behandelt zu werden und seine Persönlichkeit entfalten zu können. Jeder soll die Chance dazu bekommen, und die Globalisierung bietet sie.“ Mit diesem aufklärerischen Glaubensbekenntnis erwartet man nun von Henkel, daß er vom Standort seiner „res cogitans“ aus uns nun sein Konzept der „globalisierten Gesellschaft“ konkret schildert, mit der unsere gesellschaftliche „res extensa“ auf eine neue Schiene ökonomischer Entwicklung gehoben werden kann. Doch seine stereotype Verheißung, daß die Globalisierung dem „weltbürgerlichen“ Bewußtsein, welches sich vom traumatischen Schicksal der deutschen Nation verabschiedet hat, nun seine Persönlichkeitsentfaltung auf der alleinigen Grundlage von Menschenrechten erlaubt, dürfte Henkels Globalisierungsidee in die Nähe einer ideologischen Utopie gerückt haben. Denn die Kommunisten haben sich vom gleichen Credo nur durch ihre sozialistische Schlußfolgerung mit dem Endziel einer globalen Gesellschaft des vaterlandslosen Proletariats unterschieden. Ihr internationalistischer Erfolg einer gleichschaltenden Globalisierungsidee war „hinreißend“! Die Anfänge einer zentrifugal auseinanderdriftenden Wirtschaftsentwicklung ohne Rückkoppelung einer nach globalen Strukturprinzipien ausgerichteten nationalen Ökonomie schildert Henkel hinreichend. Der deutsche Textilfabrikant, der in Sri Lanka mit Billiglöhnen sein ausgewandertes Unternehmen rettet, um auf dem deutschen Markt mit einem preiswerten Angebot die wachsende Zahl der Arbeitslosen zu beglücken, erweist sich als eine Rechnung ohne den Wirt. Um dem sozialen Abstieg insbesondere durch Arbeitslosigkeit zu entgehen, bleibt einer der Globalisierung ausgesetzten Arbeitsbevölkerung nur der Weg übrig, sich solidargemeinschaftlich als Leistungsgesellschaft neu zu organisieren, um auch gesellschaftlich im Wettbewerb der Nationen bestehen zu können. Es wäre der konkrete „Ruck“ der durch uns Deutsche gehen muß , wie er vom Bundespräsident Roman Herzog gefordert wurde. Das schließt nicht nur ein vorbildliches Rollenspiel des verschlankten Staates ein, sondern würde auch grundlegend die Rolle der Verbände, insbesondere der Gewerkschaften ändern, welche sich von den Ritualen des Klassenkampfes verabschieden müßten, um die gesamtwirtschaftliche Verantwortung auch strukturell mittragen zu können. Das bedeutet im Klartext: Auch die Struktur der nationalen Ökonomie muß vom Staat auf eine gesicherte Basis gestellt werden, damit sie einerseits sich dem globalen Wettbewerb stellen kann, andererseits vor dem zerstörerischen Zugriff des internationalen Spekulationskapital geschützt wird. Es genügt nicht mehr, sich mit der nostalgischen Formel „soziale Marktwirtschaft“ aus der Verantwortung struktureller Neuordnung zu stehlen. Der Schlüssel für diesen mentalen „Ruck“ ist jedoch der radikale Abschied von der hedonistischen Individualgesellschaft linksliberaler Ausprägung. Denn Globalisierung bedeutet paradoxerweise auch Rückkehr zu einer nationalen Emanzipation im Sinne solidargemeinschaftlicher Verantwortung, damit wir nicht im Extremfall auf den sozialen Standard eines „chinesischen Kulis“ zurückfallen. Henkel kommt zum Schluß seiner Argumentation auf den entscheidenden Punkt. Ein Konvent muß das „reengineering“ von Staat und Gesellschaft mit dem Ziel einer Überarbeitung des Grundgesetzes gemäß Artikel 146 systematisch – wie seinerzeit auf Herrenchiemsee – in Angriff nehmen. Henkel läßt offen, welche Repräsentanten dieses „reengineering“ durchführen sollen. Etwa die kritisierten „relevanten Kräfte der Gesellschaft“? Wir können sicher sein, daß dann alles beim Alten bleibt! Wenn dann noch Henkel mit seiner „freiheitlichen“, auf die Globalisierung ausgerichteten neuen Verfassung vorschlägt, den deutschen Staat zu einer zentrifugal auseinanderdriftenden Republik „deutscher Länder“ zurückzuentwickeln, dürften die ehemaligen Besatzungsmächte vor Freude in die Hände klatschen. Denn die Besatzungsmächte waren es ja, welche vom Parlamentarischen Rat einen „Hyperföderalismus“ forderten, um mit dem Partikularismus Deutschland zu paralysieren. Henkel setzt damit der „Erbsünde“ als unser psychoanalytisches neues „Versailles“ die Krone auf. Unsere Verfassungsväter – allen voran Carlo Schmid – drehen sich vermutlich bei dieser Schlußfolgerung im Grabe um, wo sie doch unserem Grundgesetz das Staatsziel mitgaben, seinen Protektoratscharakter bei Vollzug der deutschen Einheit aufzuheben! Foto: Hans Olaf Henkel mit BDI-Nachfolger Michael Rogowski und Bundeskanzler Schröder, 2001: Heilung nur auf der Couch Hans Olaf Henkel: Die Ethik des Erfolges. Spielregeln für die globalisierte Gesellschaft. Econ Verlag, München 2002, 280 Seiten, gebunden, 37 Euro