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Bruch mit der ökonomischen Welt von gestern

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Bruch mit der ökonomischen Welt von gestern

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Wer die Agonie der Weimarer Republik nicht erlebt hat, verfügt vielleicht über den Begriff, nicht aber über die Anschauung einer Krise. Da jedoch nach Kant Begriffe ohne Anschauung leer sind, scheint es für Nachgeborene unmöglich, mehr als oberflächliche Einsichten in das Kräftespiel zur Zeit der „Großen Depression“ zu gewinnen. Ebenso ausgeschlossen scheint dann, eine angemessene Vorstellung von jener „Bewegung“ zu gewinnen, die auf eine derart singuläre Krise reagierte, so daß der Nationalsozialismus, allen Bemühungen um seine „Historisierung“ zum Trotz, mit wachsender Distanz immer monströsere Züge annimmt. Ein vielversprechender Ansatz, den Begriff Krise mit Anschauung zu füllen, könnte aus dem Versuch erwachsen, die politischen, ökonomischen und vor allem sozialpsychologischen Folgen des „Schwarzen Freitags“ an der New Yorker Börse zu erfassen, der seit Oktober 1929 weltrevolutionäre Dynamik entfaltete. Deswegen haben sich zwei Doktoranden die Weltwirtschaftskrise zum Ausgangspunkt gewählt, um den Nationalsozialismus besser zu verstehen. Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Michael von Prollius widmet sich dem NS-Wirtschaftssystem in den sechs „Friedensjahren“ zwischen 1933 und 1939, während die Bochumer Zeithistorikerin Daniela Rüther, eine Schülerin Hans Mommsens, die Vorstellungen jener Nationalökonomen „unter Hitler“ analysiert, die bald nach der „Machtergreifung“ gegen die NS-Wirtschaftspolitik opponierten und die schließlich in Planungen für die Zeit nach einem gelungenen Attentat auf den Diktator involviert waren. Die Arbeit von Prollius möchte nachweisen, daß die NS-Wirtschaftspolitik aus einem „fundamentalen Kulturwandel“ geboren wurde. Der homo oeconomicus sei 1933 vom homo militaris abgelöst worden. Die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus, sein „Wesen“, ergebe sich aus der antikapitalistischen Radikalität, mit der sein Führungspersonal eine „nicht-ökonomische Kultur“ realisieren wollte. Damit entfernt sich Prollius‘ Deutung von der mittlerweile ohnehin wissenschaftlich obsoleten marxistischen Konstruktion, wonach die „Faschisten“ nur die „Agenten des Monopolkapitals“ gewesen seien. Gleichzeitig stellt er sich gegen gängige Deutungen, wonach Hitler den Kapitalismus nur modifiziert, also mehr oder weniger staatlich dirigiert habe, womit er noch in der Kontinuität von Planspielen stünde, die lange vor den Kabinettsregierungen der Brüning, Papen und Schleicher dem Markt eine kräftige etatistische Zähmung verordneten. Prollius opfert fast ein Drittel seiner Untersuchung, um zu demonstrieren, wieviel gänzlich inadäquate „Normalität“ mit solchen Interpretationen in den letzten fünfzig Jahren dem Nationalsozialismus implantiert worden sei, obwohl er doch „das ganz Andere“ wollte, den kompromißlose Bruch mit der ökonomischen „Welt von gestern“. Um den Verlust des Glaubens an die „Vorherrschaft von ökonomischen Werten über die Gesellschaft“ und die daraus folgende NS-Reaktion einer utopistischen „rassischen“ Erneuerung des Planeten begreiflich zu machen, versucht Prollius selbst die „Große Depression“ noch als Epiphänomen einer tieferen Krise darzustellen, die auch jenseits der „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs ansiedelt. Die „Modernisierungskrise“, die Deutschland spätestens mit Beginn der rasanten Industrialisierung nach 1870 erfaßte, reichte an die „Wurzeln der menschlichen Existenz“, in die „Abgründe der menschlichen Psyche“. Die Weltwirtschaftskrise habe nur noch die letzten Hemmungen weggespült und den Weg zum alternativen, nicht-kapitalistischen NS-Wertsystem freigemacht. Sachlich bringt diese Herleitung wenig Neues, doch die fast penetrante Intensität, mit der Prollius den Nationalsozialismus als säkulare Revolution schildert, evoziert schließlich über den abstrakten Begriff der Krise hinaus eine vage Vorstellung davon, wie tief die Verzweiflung an der „bürgerlichen Welt“ um 1930 fortgeschritten gewesen sein mochte, um den Nationalsozialismus als Heilslehre erleben zu können. Doch so nachhaltig es Prollius gelingt, die Dramatik und Drastik dieser deutschen Kulturrevolution aus der Tiefe des Krisenerlebnisses zu vermitteln, so enttäuschend fällt dann die als „innovativ“ angekündigte Analyse der realpolitischen Umsetzung der antikapitalistischen Vision aus. Prollius hatte sich dabei von der Übertragung einiger Elemente „moderner“ Managementlehren reichlichen Erkenntnisgewinn erhofft. Doch kann er sich selbst ernstlich unter seiner zentralen These etwas vorstellen, die da laut: „Die Steuerung des Wirtschaftssystems der Nationalsozialisten erfolgt durch Organisation und politische Prozesse auf emergente Weise“? Wohl nicht. Statt dessen bestätigt er nur unser gesundes Mißtrauen gegen die „smarte“ Begrifflichkeit des BWL-Denglisch, das noch kräftige Zusatznahrung erhält, wenn man im Vorwort liest, daß der Doktorand in durchwachten Nächten „Power“ aus der Musik Bruce Springsteens gewonnen habe. Das tönende „Emergent“-Wortgeklingel verdeckt ja letztlich auch nur die handfeste Position seines Zweitgutachters, des politisch weit links engagierten FU-Zeithistorikers Wolfgang Wippermann: die neue Ordnung sei eine „Kultur des Krieges“, die NS-Wirtschaft also ein Instrument des „universalen Radikalrassismus“ gewesen. Theoretisch weniger ambitioniert, dafür unideologischer, im traditionellen Sinne ideenhistorisch, geht Daniela Rüther ihre Aufgabe an, die der ursprüngliche besser als der Buchtitel ihrer Dissertation umschreibt: „Zwischen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft. Die Suche des deutschen Widerstands nach einem ‚dritten Weg'“. Auch Rüther verweilt lange im Ursprungskontext der ordoliberalen Theorie der dann im Widerstand aktiven Nationalökonomen Adolf Lampe, Constantin von Dietze, Walter Eucken und Franz Böhm, nämlich bei der Weltwirtschaftskrise, die zugleich eine Krise der „klassischen“ liberalen Theorie war: „Angesichts des Ausmaßes der Depression war das Versagen der klassischen Erklärungsmuster von Krisen als normale Erscheinung im Ablauf der wirtschaftlichen Entwicklung (…) ganz offensichtlich.“ Der „Zweifel am System des Kapitalismus“ beschlich die Theoretiker der „Allmacht des Marktes“ und Apologeten des „freien Spiels der Kräfte“. Mit der Folge, daß verstärkt über „regulierte Marktwirtschaft“ nachgedacht wurde, eine Option, die sich vom ökonomischen bald gegen das politische, demokratisch-parlamentarische System richtete. Kein Wunder, daß Rüther viel Stoff findet, um wirtschaftspolitische „Affinitäten“ zwischen Liberalen und „Konservativen Revolutionären“ sowie für die erste Zeit nach 1933 auch „Schnittmengen“ mit Nationalsozialisten nachzuweisen, die dann den Kurs zwischen „Konflikt und Kooperation“ bestimmten. Gegen die materialreiche Darstellung, die neben den Freiburger Nationalökonomen um Eucken die Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckeraths, die von dem nach dem 20. Juli hingerichteten Jens Jessen etablierte „Kontaktbörse“ in der Klasse IV der Akademie für Deutsches Recht und schließlich, mit dem Mittelpunkt Carl Goerdeler, das „wirtschafts- und sozialpolitische Programm der Verschwörung des 20. Juli 1944“ einbezieht, läßt sich mitunter der Vorwurf der Weitschweifigkeit nicht von der Hand weisen. Vor allem die Freiburger Bonhoeffer-Denkschrift traktiert die Verfasserin in einer Ausführlichkeit, die zur Originalität des Inhalts in keinem Verhältnis steht. Angesichts dessen, was wir nicht erst seit Ines Reichs umfassender, wenn auch stark ideologisch gefärbter Biographie über den Leipziger Oberbürgermeister (1930 bis 1937) wissen, gewährt Rüther dem hyperaktiven Reichs-Denkschriften-Führer Carl Goerdeler entschieden zuviel Raum – zumal in Bochum, wie ihren Anmerkungen zu entnehmen ist, eine Edition dieser reichlich vorhandenen Quellen vorbereitet wird. Überdies wirkt der Untertitel etwas irreführend: Wenn von „Widerstand“ auf dem „Weg in die Soziale Marktwirtschaft“ die Rede ist, erwartet man mindestens eine skizzenhafte Auskunft darüber, inwieweit die ordoliberalen, sozialpolitisch eigentümlich matten Entwürfe der am 20. Juli beteiligten Professoren nach 1945 umgesetzt wurden. Aber das sind eher marginale Einwände des mitunter ermüdeten Lesers gegen eine wohl als abschließend zu bezeichnende Darstellung, die ihrem Thema bis in die feinsten Verästelungen nachspürt. Foto: Carl-Friedrich Goerdeler vor dem Volksgerichtshof im August 1944: Vorwurf der Weitschweifigkeit Michael von Prollius: Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente Organisation und politische Prozesse. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003, gebunden, 411 Seiten, 51 Euro Daniela Rüther: Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002, gebunden, 491 Seiten, 68 Euro

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