Es war wirklich keine gute Woche für Nancy Faeser. Erst kam heraus, daß sie, während sie aus angeblich gesundheitlichen Gründen bei einer Sondersitzung des Innenausschußes im Bundestags fehlte, ein Wahlkampfinterview für die Presseagentur dpa gegeben hatte – und nun hat sie auch noch eine Strafanzeige wegen der „Verfolgung Unschuldiger“ am Hals. Hintergrund ist der Skandal um den Rauswurf von Ex-Cyberabwehr-Chef Arne Schönbohm.
Gestellt wurde die Anzeige von jemandem, der sich mit sowas auskennt: dem Historiker und Stasi-Experten Hubertus Knabe. Dieser erklärt: „Aufgrund meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR halte ich es für äußerst problematisch, wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz von der Bundesinnenministerin dazu benutzt wird, Belastungsmaterial gegen einen ihr unterstellten Mitarbeiter zusammenzutragen. Wenn sie das tat, obwohl die Unschuld des Mitarbeiters bereits erwiesen war, ist dies eine Straftat.“
Skandal? Notiert, sortiert und abgeheftet
Offenbar kennt der gute Mann noch nicht die Sonderklausel für wilde Behauptungen und haltlose Anschuldigungen durch Angehörige des Kollektivs der besseren Menschen. Dessen Vorsitzender, der Genosse Jan Böhmermann, hat den damaligen Geheimdienstchef schließlich als gefährlichen Russen-Freund überführt. Zwar ohne Beweise, dafür aber äußerst wortreich. Das Ganze auch nicht irgendwo, sondern in seiner Fernsehshow. Diese läuft immerhin im ZDF, dem (mindestens) zweitwichtigsten, für den Erhalt der Demokratie zuständigen, Zentralorgan in der deutschen Medienlandschaft.
Zugegeben: Es gibt einen Geheimvermerk eines engen Mitarbeiters der Genossin Innenministerin, die zu dem Vorwurf des Stasi-Experten zu passen scheint. In diesem schildert dieser, wie erbost Faeser gewesen sein soll, daß die Vorermittlungen Schönbohm entlastet haben. Die BRD-Staatssicherheitschefin soll den ihr unterstellten Verfassungsschutz daraufhin dazu aufgefordert haben, noch mal abzufragen und „alle Geheimunterlagen zusammenzutragen“. Dann schreibt der Mitarbeiter: „Ich habe zugesagt, ihr diese Unterlage außerhalb des Dienstweges zukommen zu lassen.“
Ein Aktenvermerk, wie er in dieser Form wohl nur in der Beamtenrepublik Deutschland vorkommt. Daß es außerhalb des Dienstweges schon einmal etwas länger dauern kann, könnte auch erklären, warum die übliche Frist zur Durchführung der Vorermittlungen im Fall Schönbohm, wie Knabe sagt, deutlich überschritten wurde.
Schuldig im Sinne der Gerüchteküche
Wer das heutige Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit verstehen will, dem sollte sich bewußt machen, daß „nicht schuldig im Sinne der Anklage“, noch lange nicht unschuldig im Sinne des woken Zeitgeistes bedeutet. Diese Formel für progressive Urteile zeigt sich auch weiterhin überdeutlich in der Causa Lindemann. Im Falle des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Rundfunks Berlin-Brandenburg, kurz RBB, sogar ganz konkret. Dieser erklärt, daß er trotz der Einstellung sämtlicher Ermittlungsverfahren gegen den Sänger weiterhin keine Rammstein-Songs spielen wird.
Begründet wird das von einem Sprecher der Landesrundfunkanstalt tatsächlich damit, daß für die Entscheidung, die Lieder der Band künftig aus dem eigenen Programm herauszuhalten, „eine mögliche strafrechtliche Relevanz allerdings nie das einzige – und auch nicht das maßgebliche – Argument“ gewesen sei. Vielmehr stehe „die ethische Fragwürdigkeit des unwidersprochenen Casting-Systems im Raum“. Der RBB sieht sich selbst also offenbar als eine höhere moralische Instanz, deren Verständnis von Schuld und Sühne weit über das strafrechtlich relevante Maß hinausgeht. Quasi als woker Friedensrichter, der seine Urteile gemäß einem eigenen Wertesystem fernab staatlicher Gesetze und juristischer Entscheidungen fällt.
Lindemann wagt die musikalische Gegenoffensive
Dieses System hat gegenüber den rechtsstaatlichen Prinzipien den Vorteil, daß für die Entscheidungen keinerlei Beweise benötigt werden. Wer einer Behauptung nicht widerspricht, hat damit bereits das Geständnis abgelegt, daß diese zutrifft. Aber auch, wenn er ihr vollständig oder in Teilen widersprechen sollte, obliegt es immer noch allein der Weisheit des woken Friedensrichters, welcher Seite er Glauben schenkt. Wem ein solcher außergerichtlicher Prozeß gemacht wird, der sollte besser keine unwoken Schweinereien auf dem Kerbholz haben.
Lindemann selbst hat am Freitag das Beste getan, was ein Musikkünstler in seiner Situation machen kann. Er hat mit einem neuen Musikvideo ein künstlerisches Statement abgegeben.
Hubert Aiwanger der Umfragekaiser
Immer mehr „normale Menschen“ scheinen von den moralischen Übermenschen, die sich selbst so frei von Schuld fühlen, daß sie guten Gewissens nach allem und jedem Steine werfen können, sowieso die Schnauze voll zu haben. Nachdem die Presse tagelang die Sau – die Flugblatt-Affäre von Hubert Aiwanger – durchs mediale Dorf getrieben hat, sind dessen Freie Wähler in der ersten Umfrage seit dem Skandal in der Gunst der bayrischen Bürger nicht etwa gefallen, sondern erheblich gestiegen. In einer am Dienstag veröffentlichten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der Bild-Zeitung, verbucht die Partei für die kommenden bayrischen Landtagswahlen ein Plus von vier Prozentpunkten und kommt auf 15 Prozent. Im Wählercheck des privaten TV-Senders Sat.1 erreichen die Freien Wähler sogar einen Rekordwert von 16 Prozent der potentiellen Wählerstimmen.
Damit sind Aiwanger und die Seinen in den Umfragen nun zweitstärkste Kraft im Freistaat. Unabhängig davon, wie ungeschickt der stellvertretende bayrische Ministerpräsident mit den Enthüllungen über seine Zeit als Teenager auch umgegangen sein mag, sind viele Wählerinnen und Wähler wohl nicht ihr ganzes Leben lang solche Engel gewesen wie die moralische Elite in den multimedialen Redaktionsbüros – und sind daher der Meinung, daß auch die übelsten Jugendsünden irgendwann einmal vergeben werden sollten. Und daß das, was ein 52jähriger Politiker aktuell politisch für sein Land und dessen Bürger tut, wichtiger ist, als die geistigen Verwirrungen, denen er als 17jähriger Schüler nachgehangen sein mag.