Über Facebook erhielt ich den Link zu einem Artikel, der jedem Lebensrechtler einen Schrecken einjagt: „Steigende Anzahl von College-Studenten befürworten post-natale Abtreibung“.
Dieser Beitrag, der in der US-amerikanischen Studenten-Internetzeitschrift „The college fix“ am 29. Oktober 2014 erschien, hat keine repräsentativen Statistiken zur Grundlage, sondern Berichte von Lebensrechtlern, die in Universitäten aktiv sind. Diese Form des Einsatzes für das Leben der ungeborenen Kinder ist in den Vereinigten Staaten sehr üblich. Es kommt regelmäßig zu heftigen Diskussionen. Kaum ein anderes Thema schlägt im Land so hohe Wellen.
Den Artikel von „The Fix“ postete ich in die Facebook-Seite der Aktion „SOS Leben“ und war neugierig auf die Reaktionen. Diese reichten dann von blankem Entsetzen und Wut bis zu Skepsis: Viele Menschen halten es nicht für möglich, daß man auf solche Gedanken überhaupt kommen kann. „Neugeborene töten zu wollen!“ – „Wie ist so was möglich?“ – Andere Kommentare hielten den Artikel schlichtweg für unseriös und reißerisch.
Neugeborenentötung ist logische Konsequenz der Abtreibungspraxis
Doch so abwegig ist das eigentlich nicht. Die Tötung neugeborener Babys ist im Grunde die logische Konsequenz der heutigen Abtreibungspraxis und der vielfach geforderten Liberalisierung der Euthanasie.
In den Vereinigten Staaten ist es völlig legal, bis unmittelbar vor der Geburt abzutreiben. Die Methoden, die hierfür verwendet werden, sind schlichtweg barbarisch. Die Zahl dieser Abtreibungen ist zwar gering, doch die Tatsache, daß sie völlig legal sind, führt zwangsläufig zu der Frage, wieso man das Kind nicht auch eine Minute nach der Geburt töten darf. Etliche Studenten, die im Bewußtsein aufgewachsen sind, man könnte, wann immer man es will, das Kind im Mutterlieb töten, sagen sich wohl: „Ja, wieso nicht?“
Im Artikel von „The college fix“ wird genau auf diese Situation eingegangen. Der Beitrag verlinkt zu einem Video, in welchem eine Diskussion zwischen einem Lebensrechtler und einer Abtreibungsaktivistin gezeigt wird. Auf die Frage, wieso man eine Minute VOR der Geburt das Kind töten darf, aber eine Minute NACH der Geburt nicht mehr, verwies die Abtreibungsaktivistin auf gesundheitsmedizinische Notwendigkeiten. Eine klare Ablehnung des Neonatizids, der Neugeborenentötung, konnte sie nicht aussprechen. Diese Haltung ist nichts anderes als die logische Konsequenz der heutigen Abtreibungspraxis.
Warum mit dem Prüfen nicht abwarten bis nach der Geburt?
Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, daß es in Deutschland nicht zu solchen Fällen kommen wird. Auch in Deutschland sind Abtreibungen bis unmittelbar vor der Geburt erlaubt, falls die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter in Gefahr ist. Diese Abtreibungen sind eigentlich nur bei Vorliegen einer sogenannten „medizinischen Indikation“ erlaubt. Doch in dieser Indikation ist beispielsweise enthalten, daß die Frau aufgrund der Austragung des Kindes psychische Probleme bekommen könnte.
In Deutschland gibt es wenige Spätabtreibungen. Dennoch haben diese nicht unerheblichen Einfluß auf die Einstellung der Gesellschaft in bezug auf das Leben der ungeborenen Kinder, wenn man diese bis zur letzten Minute vor der natürlichen Geburt vernichten darf.
Und wie kommt es dazu: Meist handelt es sich um Kinder, die eine schwere Krankheit haben. Angesichts der Tatsache, daß man eine solche Krankheit niemals mit völliger Sicherheit diagnostizieren kann, stellt sich die Frage, wieso man nicht die Geburt abwartet, um die Gesundheit des Kindes zu prüfen? Dann entscheidet man erst, ob das Kind leben soll oder nicht.
Peter Singer: „Nicht leiden lassen, sondern gleich töten“
Wendet man pränatale Diagnostik an, um zu entscheiden, ob man das Kind haben möchte oder nicht, begeht man – moralisch gesehen – eine dem Neonatizid gleichwertige Untat. Nur die gesetzliche Lage hindert diese Person, auf die natürliche Geburt zu warten, um zu dieser Entscheidung zu kommen.
Aufgrund des enormen technologischen Fortschritts der vorgeburtlichen Diagnostik ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Spätabtreibung und Neonatizid überholt. Es würde nicht überraschen, wenn bald jemand die Legalisierung des Neonatizids fordert, um so die hohen Kosten der vorgeburtlichen Diagnostik sparen zu können, um nicht von den gigantischen Forschungskosten zu sprechen. All das würde wegfallen, wenn man die Tötung von Neugeborenen legalisierte.
Am radikalsten hat sich der australische Philosoph Peter Singer für die Euthanasie von Kindern eingesetzt. Sein Buch „Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener“ provozierte Wellen der Empörung. Das bedeutete keineswegs, daß sich Singer dadurch ins Abseits gestellt hatte. Im Jahr 1999 wurde sein Buch „Wie sollen wir leben – Ethik in einer egoistischen Zeit“ von DTV herausgegeben. Am 8. Juni 2011 erhielt er den „Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung“.
Am 24. Juli 2011 wurde er von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewt, wo er beispielsweise folgendes von sich geben konnte: „Wenn die Prognosen schlecht sind, das Baby sehr leidet und vielleicht in ein paar Wochen sowieso sterben würde, halte ich es für besser, dieses Kind nicht länger leiden zu lassen, sondern es gleich zu töten.“ Mitnichten wird Singer von der großen Presse ausgegrenzt.
Jede Frist zur Abtreibung ist willkürlich gewählt
Peter Singer steht nicht alleine da. Im Jahr 2012 haben die Bioethiker Alberto Giubilini und Francesca Minerva in einem Aufsatz für das Journal of medical ethics erneut die Frage aufgeworfen, ob Kinder mit schweren körperlichen oder geistigen Schäden nicht getötet werden dürften.
Es gab eine Welle der Empörung. Die Ärzte Zeitung veröffentlichte am 5. März 2012 einen Kommentar zur Debatte um die Aussagen der beiden Bioethiker, der sie als „langweilig“ bezeichnete: „Auch Skandale können langweilen. Um einen solchen Skandal handelt es sich bei dem jüngst veranstalteten Theater rund um eine Veröffentlichung im Journal of Medical Ethics. Unter dem Titel ‘Abtreibung nach der Geburt: Warum sollte das Baby leben?’ legen die australischen Philosophen Dr. Francesca Minerva und Dr. Alberto Giubilini darin die Gründe dar, unter denen sie die Tötung von Neugeborenen für erlaubt halten. Diese Gründe sind, kurz gesagt, all jene, unter denen noch während der Schwangerschaft eine Abtreibung statthaft gewesen wäre.“
Grund für Empörung gibt es also nicht, so der Autor des Kommentars. Ist sein moralisches Empfinden abgestumpft? Ist er einfach zynisch? Das will ich nicht beurteilen. Allerdings hat er Recht, wenn er behauptet, die Aufregung über die Aussagen von Giubilini und Minerva sei aufgrund der hohen Zahl von Abtreibungen nicht frei von Heuchelei: „Allerdings wird man dann der Frage nicht ausweichen können, weshalb allein in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 100.000 Feten ganz legal abgetrieben werden dürfen – die meisten davon, so wird man annehmen müssen, ganz gesund.“
Zumindest diesen Verdienst kann man Minerva und Giubilini also zurechnen: ein Gespür für die Willkür geweckt zu haben, die jeder Fristsetzung für eine Abtreibung anhaftet. „Die Zumutung solcher Willkür muß jede Gesellschaft aushalten, die eine Fristenlösung akzeptiert. Ist ein solcher Kompromiß nach langem Ringen gefunden, sollte man ihn nicht ohne Not in Frage stellen.“
Legalisierung von Sterbehilfe führt auch zur Gewöhnung
Die Bemerkung ist nicht deplatziert und trifft den Kern der Sache: Das Recht auf Leben kann nicht irgendwie aufgeteilt werden. Man hat es oder man hat es nicht. Das Alter, der Schwangerschaftsmonat, sind eigentlich irrelevant. Wieso darf man in Deutschland gemäß Paragraph 218 StGB bis zum dritten Monat einschließlich straffrei abtreiben, am Tag danach nicht mehr? Die Gründe für diesen Stichtag sind schon seit langem wissenschaftlich und moraltheologisch längst widerlegt.
Auch die schrittweise Legalisierung der Sterbehilfe fördert die Gewöhnung an die Idee, in bestimmten Fällen sollte die Neugeborenentötung doch erlaubt sein: In Belgien ist die Euthanasie von Kindern schon möglich. Das Gesetz in seiner jetzigen Fassung erlaubt es jedoch nicht, Säuglinge zu töten, denn die Person muß die Tötung bei vollem Bewußtsein verlangen. Doch solche Entwicklungen gewöhnen an die Idee, auch Säuglinge in bestimmten Situationen töten zu dürfen.
In „Muß dieses Kind am Leben bleiben?“ beschreibt Peter Singer genau diesen Umstand: „Wäre aktive Euthanasie ganz allgemein für jeden Menschen verfügbar (damit meint er auch Säuglinge, obwohl sie nicht einwilligen können, Anm. M. v. G.), in dessen Interesse es ist zu sterben, würde sich die Unterscheidung zwischen Neugeborenen und anderen – und damit die Notwendigkeit einer Altersgrenzziehung – in der Tat weitgehend erübrigen.“