Die Intuition trog nicht. Sicherlich haben sich weniger als die Hälfte der Deutschen oder der „Europäer“ 2002 den Euro gewünscht. Abgesehen von etwas Reisebequemlichkeit. Sie waren auf gesunde Weise skeptisch, weil ihnen offensichtlich war, daß sie mit ihren linken und rechten Haus- oder Wohnungsnachbarn – bei aller kulturellen Wertschätzung – ebensowenig gern einen gemeinsamen Haushalt führen wollten wie mit Franzosen, Italienern und Griechen.
Auch dies bei aller Wertschätzung. Viele ahnten, daß verschiedenste Volkswirtschaften mit verschiedensten Besonderheiten sich nicht gut in einer Sorte Einheitsgeld aufgehoben fänden, auch wenn dafür seitens der Regierenden ein Autoritätsbeweis nach dem anderen aufgerufen wurde, um vor allem zweierlei zu verschleiern – zum einen das Bedürfnis der Wirtschafts- und Finanzoligarchie nach Vereinheitlichung und zum anderen die Neutralisierung des vereinigten Deutschlands als gefürchteten Großkonkurrenten, maßgeblich aus der alten Sorge Frankreichs heraus, also als Gegenleistung für die 1990 gewährte Einheit.
Die Märkte fürchten einen Zusammenbruch des EU-Systems
Jenseits einlullender Phrasen positionieren sich aber mehr denn je politische Klardenker. Das Dilemma besteht darin, daß man sie erst finden muß, weil sie keine Vordrängler sind und weil das „Establishment“ sie sich nicht in den Politikteil der Zeitung wünscht, man muß sich zu ihnen durchblättern. Daß dies wenige tun und daß überhaupt wenige eine Motivation treibt, selbständig durchzusehen, oder daß ihnen einfach das Zeug dazu fehlt, darin liegt eben die verhängnisvolle Behäbigkeit der „Volksmassen“, die ganz naturgemäß anderes zu tun haben, als sich über die Sicherstellungen des Alltags und ihr bißchen Hedonismus hinaus zu orientieren. Sie haben diese trügerische Beschaulichkeit in der Geschichte oft teuer bezahlt. Aber wer wollte jetzt deswegen noch didaktisch werden?
Blättert man sich also in diesen Zeiten gleich übers Feuilleton hinweg zum Wirtschaftteil durch, so erfährt man, daß es in Köln immer noch ein Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung gibt, dem ein couragierter Professor vorsteht, Wolfgang Steeck. Er stellte in der Süddeutschen Zeitung jüngst klar, daß es bei der „europäischen Integration“ mitnichten um irgendeine Idee oder gar um Bedürfnisse der Völker geht, sondern „Motor des Wiederauflebens des Integrationsprozesses nach dem Scheitern des Verfassungsprojekts die ‚Märkte’ sind, die um ihre in das europäische Staatensystem investierten Milliarden fürchten. Ein Ende des Euro käme sie teuer zu stehen, ebenso wie der Bankrott eines der Schuldnerstaaten. So besorgt sind die Märkte, daß sie als Sicherheit dafür, daß die Schulden auf Heller und Pfennig und mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden, nichts Geringeres verlangen als einen grundstürzenden Umbau des europäischen Staatensystems.“
Politainment für die nachrichtenverfolgende Mittelschicht
Mehr muß man eigentlich nicht wissen. Dieser Satz könnte so ins Sozialkundebuch der Oberstufe gedruckt werden, wenn man dort anmerkt, daß „die Märkte“ der aktuell gängige Euphemismus für „die Großverdiener“ ist, die schon immer außerhalb der lebendigen, also kritisch nachfragenden Demokratie bessere Reproduktionsbedingungen fanden als in ihr. Reden sie dennoch pseudoliberal von „Deregulierung“, meinen sie damit eher Regulierungen zu ihren Gunsten, ganz im Sinne der seit den Neunzigern hierzulande durchlaufenden „Finanzmarktförderungsgesetze“, gleichermaßen willfährig von allen Parlamenten und Regierungen beschlossen.
Ebenso trefflich kompakt die Schlußfolgerung Streecks: „Was sich in Wahrheit abzeichnet, ist eine rapide Ausbreitung dessen, was heute ‚Postdemokratie’ genannt wird. In ihr bleibt die Wirtschaft von dem, was man den ‚Druck der Straße’ nennt, verschont und wird einer von Zentralbanken und Regulierungsbehörden exekutierten regelgebundenen Wirtschaftspolitik unterstellt. Demokratie jenseits eines residualen Rechts- und Polizeistaats wird dann frei für öffentliche Inszenierungen aller Art: für Politainment für die nachrichtenverfolgende Mittelschicht …“
Danke, Professor Streeck! Und: Daß der Grundkonflikt zwischen Kapitalismus und Demokratie sich durch den Repräsentanten eines Max-Planck-Instituts so treffend beschrieben findet, zeugt von immer noch funktionierenden Institutionen freien Denkens, auch wenn die ihren maßgeblichen Einfluß auf die Politik weitegehend verloren haben.