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Wer Europa sagt, will betrügen

Wer Europa sagt, will betrügen

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Wer Europa sagt, will betrügen

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Zuerst die uns bekannten Zahlen: 80 Prozent der Deutschen halten die Euro-Krisenpolitik der Regierung Merkel für falsch, 70 Prozent sind gegen die Ausweitung des Rettungsschirms, über 60 Prozent gegen eine europäische Wirtschaftsregierung. Aber im Gegensatz dazu erreicht das Europäische Finanzaufsichtssystem (ESFS) im Bundestag eine Zustimmung von zirka 90 Prozent. Wie geht das zusammen? Und wie funktioniert es, daß der deutschen Europapolitik mitten in der schärfsten Krise der EU und der Einheitswährung immer nur einfällt: Mehr Integration, mehr Integration!

Philip Manow, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, gelingt in der neusten Ausgabe des Merkur eine intellektuell so scharfsinnige wie politisch bestechende Analyse der europäischen Lebenslüge, indem er nachzuweisen versteht, daß allein schon strukturell bedingt eine „Präferenzverzerrung“ zu Lasten europakritischer Kräfte in der Politik stattfinden muß. Wie das?

Die Herleitung: Das in den allermeisten EU-Mitgliedsländern herrschende Verhältniswahlrecht erzwingt innerhalb von Mehrparteiensystemen Koalitionen, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen, insbesondere der, daß zentristische Parteien eher an der Regierung sind als stärker rechts oder auch links positionierte. Insofern jedoch zentristische Parteien, also die selbsterklärte „Mitte“, gegenwärtig integrationsfreundlich auftreten, bleiben kritische Positionen unterrepräsentiert.

Systematische verzerrte Wählerpräferenzen

Oder anders: Die Regierungen sind bei dieser Art der Interessenaggregation deutlich integrationsfreundlicher als ihre Bevölkerungen. Manow resümiert: „Die EU ist ein Eliteprojekt, gestützt auf den Konsens der nationalen Exekutiven, die natürlich alle grundsätzlich demokratisch legitimiert sind, aber gerade in der immer wichtiger werdenden europäischen Dimension die Präferenzen der Wähler nur systematisch verzerrt repräsentieren.“

Bisher galt: 1.) Wo nicht EU-Parlament und Kommission entscheiden, bestimmen die Landesregierungen die Europapolitik. 2.) Die Mitgliedsländer sind demokratisch legitimiert, also ebenso – direkt oder indirekt – die europäischen Entscheidungen. Aber: Wenn die Präferenzverzerrung unten beginnt, kann das so gar nicht funktionieren. Manow konstatiert zu Recht, daß der „nationale demokratische Repräsentationsmechanismus grundsätzlich gestört ist.“

Da sich der nationale Wähler nur zwischen einer sehr europafreundlichen Regierung und einer ebenso europafreundlichen Opposition entscheiden kann, hätte er zwar die Wahl – aber keine Auswahl! Damit ist die Idee einer Demokratie, eine Politik zugunsten einer anderen abwählen zu können, jedoch ad absurdum geführt. Manow: „In Deutschland ist die verzweifelte Frage ‚Wen wählen?’ in den Leserbriefspalten der Tageszeitungen vor dem Hintergrund einer Integrationsüberbietungstendenz von Regierung und Opposition zu verstehen.“

Die weitgehende Akzeptanz der Demokratie lag bisher darin, daß die Minderheit die Entscheidungen der Mehrheit hinnahm, insofern eine Aussicht darauf bestand, daß die Minderheit im nächsten Wahlakt Mehrheit sein kann. Für die Europapolitik gilt das längst nicht mehr, denn der Wähler kann hierzulande so oder so immer nur eines wählen: Mehr Integration!

Die Bundespolitik sollte den illusionslosen Blick üben

Wenn aber schon die Regierungen außerhalb des Präferenzraums der Wähler angesiedelt sind, verschieben sich EU-Kommission, EU-Parlament und EU-Rat noch weiter davon weg. Wurde bisher abwinkend dargestellt, daß EU-Wahlen nur nationale Protestaktionen sind, so kann man eher davon ausgehen, daß sich darin eher tatsächlich der Widerstand gegen „Europa“ selbst niederschlägt. Es wird extrem gewählt, „weil EU-freundliche Parteien im Ministerrat aufgrund des Musters nationaler Koalitionsbildung systematisch überpräsentiert sind.“

Die Bundespolitik sollte den illusionslosen Blick üben. Nach wie vor handeln die Mitgliedsländer der EU national. Sie halten Regeln ein, solange die mit dem nationalen Interesse in Deckung sind; sie brechen diese bei Diskrepanz. Das rhetorische Bekenntnis zur „Solidarität“ ist vor diesem Hintergrund wenig wert.

Gustav Seibt veränderte jüngst spekulativ den Blickwinkel auf die Ereignisse, indem er die Euro-Rettung mit dem langen Ritt über den Bodensee aus Gustav Schwabs Novelle verglich und erwartete, daß der Schuldige, sollte dieser Hasard-Akt schiefgehen, schon feststeht: „Es wird Deutschland sein. Das ist der Preis der neuen Stärke. Dann wird Deutschland – und nicht etwa ein Bankrotteur am Mittelmeer – in den Augen der anderen Europäer der Verursacher einer Katastrophe gewesen sein, diesmal, nach den Weltkriegen von 1914 und 1939, eines ökonomischen Zusammenbruchs von globalem Ausmaß.“

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