Der moderne Mensch ist unfähig, einen Text, ein Werk außerhalb politischer Perspektiven und Deutungen zu erfassen, interdisziplinäre, metapolitische Lesarten seien unvorstellbar geworden, klagt Rüdiger Jacobs in seiner Dissertation über Wagners politische Schriften. Daran trage nicht zuletzt die Bologna-Reform der Universitäten entscheidende Schuld: „Geistige Planierung soll die Studenten auf ihre spätere Funktionalität abrichten und den Blick von komplexen Situationen weglenken.”
Das zeigt sich auch in der Publizistik: Sämtliches Geschehen, das Geschichtliche, jede wissenschaftliche und künstlerische Neuheit wird in Bezug auf Kapitalismus, Gender, Okölogie oder auf sozio-psychologischer Ebene gedeutet, Ereignisse ins vorgegebene Denkmodell gepresst, auf Freund-Feind-Dualismen reduziert, vertiefende Auseinandersetzung durch Beißreflexe ersetzt. Diese Dreieinigkeit von Politologie, Soziologie und Psychologie bilden den Erfahrungshorizont der Gegenwart. Kaum eine Fragestellung, die darüber hinaus ginge.
Metaphysischer Journalismus über die Lagergrenzen hinweg
Welche nenneswerten Medien würden beispielsweise einen „metaphysischen Journalismus” wagen? Das meint kein Deuten mittels religiöser Dogmen, sondern ein Fragen über den funktionalistischen Horizont hinaus, jenseits des politischen Lagerzwangs. Natürlich ist auch Metaphysik nicht un- oder apolitisch, würde aber neue Ebenen freisetzen, ungeahnte Verbindungen erkennen lassen.
Das Problem ist nicht neu. 1934 beklagte der französische Dichter Antonin Artaud das Ausklammern metaphysischer Probleme aus dem öffentlichen Diskurs, deren restlose Verdrängung durch pragmatische Politik. Dem stellte er eine metaphysische Romanadaption des römischen Kaisers Heliogabal entgegen, läßt ihn als Kreateur neuer Riten auftreten. Auch von seinem eigenen Ritual-Theater, dem „?Théâtre de la Cruauté” (Theater der Grausamkeit), erhoffte Artaud sich die Wiederherstellung eines metaphysischen Bewußtseins bei seinen Zeitgenossen. Unnötig zu betonen, daß er scheiterte.
Nicht anders als Jahrzehnte zuvor Richard Wagner, dessen Musikdrama im Publikum eine innere „Revolution” provozieren, die Allmacht der Politik zugunsten einer metapolitischen Welterfahrung durchbrechen wollte, eines Erlebens, das über rationales Kalkül hinausgeht. Da aber weder Artauds noch Wagners Problematik verstanden wurde (oder wird), kastrierte man sie rasch zu Repertoire-Eunuchen städtischer Bühnen und des Bildungskanons.
Spirituelle Armut unserer Zeit
Wen das wundert, sollte sich folgende Anekdote nicht entgehen lassen: Vor zirka drei Jahren fiel in einem Seminar für Theaterregie die Frage, wie oder als was Jesus heute darzustellen sei. Die Antwort der Studenten: „Als Sozialarbeiter.” Mehr gibt diese 2000jährige mythologische Persönlichkeit nicht mehr her als eine so simple Polit-Adaption? Noch vor einem halben Jahrhundert hätten selbst irreligiöse Menschen zumindest deren symbolische Kraft, ihr Potential als „Archetyp” gewürdigt, so geschehen in der jungianischen Psychologie. Aber Sozialarbeiter…
Gegenüber soviel metaphysischer Bescheidenheit wirkt das Mittelalter wahrlich verschwenderisch. So schauerlich uns dessen physische Askese und Armseligkeit heute erscheint, so sehr hätte den Menschen jener Zeit unsere spirituelle Armut erschüttert. Die derzeitige Politik-Fixierung wird späteren Historikern ebenso eindimensional erscheinen, wie Heutigen die mittelalterliche Deutung sämtlicher Ereignisse durch christliche Glaubenssätze.
Leider scheint die Mehrheit in jeder Epoche stets von einer einzigen Art der Weltdeutung beherrscht. Die Metaphysik wäre heutzutage ohnehin nicht mehr als Lehrgebäude, sondern nur noch als Frage, als Offenhalten zum (möglichen) Weltgeheimnis möglich. Das aber verlangt Mut zur Ungewissenheit anstelle eindimensionaler Gewißheit.