Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich das Buch „Kreis ohne Meister“ von Ulrich Raulff gelesen, das vom Nachleben Stefan Georges bis in die Gegenwart handelt und auf der Leipziger Buchmesse gerade ausgezeichnet wurde. Ich habe es ebenso fasziniert wie irritiert aus der Hand gelegt. Ich stieß auf etliche Namen, die mir aus anderen Zusammenhängen gut bekannt waren. Auf den Namen des Erziehungswissenschaftlers Hartmut von Hentig zum Beispiel, der mit dem ehemaligen Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, zusammenlebt.
Hartmut von Hentig ist der Sohn des Diplomaten Werner Otto von Hentig. Dessen Vorgesetzter im Auswärtigen Amt war seit 1938 Ernst von Weizsäcker, der Vater des späteren Bundespräsidenten. Wie aus den Hassell-Tagebüchern hervorgeht, attestierte Hentig dem Staatssekretär fehlende „Festigkeit des Charakters“. Nun gut. Gerold Becker wiederum, der jetzt den sexuellen Mißbrauch von Schülern eingeräumt hat, war Schützling des Bildungswissenschaftlers Hellmut Beckers, Sohn eines preußischen Kultusministers.
Wie aus Raulffs Buch hervorgeht, unterhielt Helmut Becker, mehrfacher Vater und nicht mit Gerold Becker verwandt, erotische Beziehungen zu begabten jungen Männern. Als Rechtsanwalt hatte er Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozeß 1948/49 so gut es ging rausgepaukt. Ein Sohn Richard von Weizsäckers wiederum absolvierte die Odenwald-Schule.
Beziehungskisten alter konservativer Eliten
Becker, Hentig, Weizsäcker: Es sind die Beziehungskisten alter konservativer Eliten, teilweise dem Beamtenadel angehörig, die ihre Stellung bis weit in das 20. Jahrhundert behauptet haben, indem sie sich betont linksliberal und fortschrittlich gerierten. Die sexuelle Revolution der sechziger Jahre gab einigen von ihnen Gelegenheit, den pädagogischen Eros, den der von ihnen verehrte Stefan George ins Ästhetische sublimiert hatte, ungeniert zu überdehnen.
Die Vorwürfe über die Odenwaldschule liegen schon seit mehr als zehn Jahren auf dem Tisch. Jemand wird wohl die schützende Hand über die Beschuldigten gehalten haben. Vielleicht war es ein Regiefehler oder der Eigendynamik der Affäre geschuldet, daß Becker und Hentig mit in den Mißbrauchsstrudel gerissen wurde, der die Katholische Kirche ereilte. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) giftet ausschließlich gegen die Kirche, was wohl als Entlastungsangriff zu verstehen ist, sitzt sie doch zusammen mit Hartmut von Hentig im Beirat der kirchenfeindlichen „Humanistischen Union“.
Doch die Dämme brechen auf der ganzen Linie. Im vorletzten Spiegel war ein langer Beitrag über die Weizsäcker-Dynastie zu lesen, aus dem man den Eindruck gewann, daß ausschließlich die große Schuldanklage, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 gegen die Deutschen erhob, seine Familiengeschichte vor der Skandalisierung schützt. Doch wie lange noch? Wir erleben, wie die letzten, vorbundesrepublikanischen Traditionsbestände und Eliten abgeräumt werden, die in Habitus und Korpsgeist noch immer über die Bundesrepublik hinauswiesen, wie treulos auch immer.
Egalitarismus als stärkster Antrieb der Zivilgesellschaft
Soll man das unter ausgleichender Gerechtigkeit verbuchen? Skepsis ist angebracht. Die Zivilgesellschaft ist eine moderne Massengesellschaft, deren stärkster Antrieb im Egalitarismus liegt. Die aktuelle Kampagne bedient die Bestrebungen, die Eliteschulen, Internate, Gymnasien als Refugien der Bildungsbürgerlichkeit zu kontrollieren (neudeutsch: „transparent zu machen“) und zu enteignen. Der Staat ist gleichfalls daran interessiert.
Noch schlimmer als das demographische ist nämlich das umfassendere bevölkerungspolitische Desaster. Ein Großteil der Kinder, die heute in Deutschland geboren werden, entstammen Unterschichtenfamilien, die ihnen weder intellektuelles noch soziales noch anderes Kapital mit auf den Weg geben können. Was liegt also näher, als die gehegten Potentiale, die es noch gibt, aus den Fluchtburgen zu zerren und zu sozialisieren, damit das System noch ein bißchen weiterwursteln kann?