Am 1. Weihnachtsfeiertag vor einem Jahr betrat J. – ein Kind radikaler Säkularisierung – den Brandenburger Dom. Als sie die antiken Altarfiguren erblickte, fiel ihr auf: Maria, die Madonna, steht ja in der Mitte! Zwischen den Heiligen. „Wie kommt es, daß man ihr – als Frau – einen derart zentralen Platz einräumt? Und das schon in früheren Jahrhunderten?“– so fragte sie erstaunt.
Die Erklärung, daß Maria in der katholischen Mythologie der einzige sündenfreie Mensch, folglich die „Nächste am himmlischen Thron“ gewesen ist, daß sie deshalb auch nicht den Tod, den „Lohn der Sünde“, erlitten, sondern leibhaftig in den Himmel aufgefahren sei – all das ließ die depressive J. aufblühen. Sie fühlte sich durch diesen Mythos (auch) als Frau aufgewertet. Der Eindruck war so stark, daß J. eine Kerze anzündete und ihre Bitte aussprach.
Mag sich das Christentum als Religion, als Glaubenssystem in der Krise befinden, sein mythisches Bildpotential – über zwei Jahrtausende lang entwickelt – ist von ungebrochener Kraft.
Schrecken irdischer Existenz
Man erinnere nur an die Krankenheilungen Christi oder die schrecklichen Kreuzigungsbilder, die Leidenden identifikatorischen Trost boten. Auch Christi Akzeptanz der Ausgestoßenen bot Halt für moderne Gesellschaftsopfer und Selbstzweifler: So haben brasilianische Prostituierte das Logo ihrer Selbsthilfeorganisation mit einem Maria-Magdalena-Bildnis versehen. Denn der wurde nicht bloß „vergeben“ – nein, Christus hat sie auch als Begleiterin akzeptiert, gar gewollt.
Dieser jahrtausendealte, therapeutische Bilderreichtum verschwand in nur wenigen Jahrzehnten aus dem kollektiven Bewußtsein. Da bedarf es keiner Phantasie, um die ungeheure Leerstelle zu ermessen, die in den Seelen der Zeitgenossen klafft. Was tun?
Nun sind diese Bilder mit dem christlichen Glaubenssystem verwoben. Das aber erscheint zahlreichen Zeitgenossen kaum mehr akzeptabel, gerade in bezug auf seine „Axiome“. Wie ließe sich beispielsweise der Schrecken irdischer Existenz noch als Resultat menschlicher Sündhaftigkeit begreifen? Weiß man doch, daß die Biosphäre seit Millionen Jahren ein Ort des Grauens ist – wo sich schon früheste Lebensformen gegenseitig jagten, hetzten, rissen und fraßen. In der alles leidet, erkrankt und angstvoll verendet, lange bevor der Mensch die irdische Bühne betrat. (Der hat den Leidenskatalog bestenfalls durch das Phänomen „Liebeskummer“ erweitert.) Da bricht selbst modernste Sündenfall-Deutung, kracht alle Theo- und Kosmodizee in sich zusammen.
Dionysisches Christentum
Also, was tun? Gehen wir noch einmal nach Brasilien. Dort hat sich seit fast 200 Jahren ein Synkretismus gebildet. Das Christentum der Europäer verschmolz mit dem Yoruba-Kult der afrikanischen Sklaven zu einer neuen Einheit. Diese nennt sich Macumba. Ähnliches geschah in der kubanischen Santeria sowie im haitianischen Voodoo. Götter beider Religionen und deren Mythen verschmolzen miteinander. Die christliche Maria ist da identisch mit der Meeresgöttin Yemanja, Christus mit dem melancholischen Weltenschöpfer Oxala, St. Georg mit dem Kriegsgott Ogun usw. So bleiben die Bilderwelten erhalten, provozieren neue Mythen. Ein dionysisches Christentum, von C. G. Jung dringend gewünscht, hier entstand es. So wie das abendländische Christentum einst als Synkretismus hebräischer, griechischer und römischer Einflüsse entstand.
– Gut, das ist der südamerikanische Weg zur Erhaltung des christlichen Bildpotentials. Aber wie sieht der europäische, mitteleuropäische aus? Kann der Mensch solche Prozesse überhaupt „bewußt“ lenken? Oder sind sie dem gezielten Handeln genauso wenig verfügbar, wie das Mystische, unverständlich Geheimnisvolle, das alle religiösen Bilder zaghaft berühren? – Zumindest kann man sie im Gedächtnis bewahren, ihr Verschwinden aufhalten.