Ich wurde ein Jahr vor 1968 geboren. Als ich zehn Jahre alt war und im bayerischen Isartal auf das Gymnasium kam, erlebte ich das Echo der Studentenrevolte. An der Außenwand der Schule prangte monatelang das Graffito „Alle Macht den Schülern“. Im gleichen Jahr, 1977, erschütterte der „Deutsche Herbst“ die Republik mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch RAF-Terroristen und der Entführung einer Lufthansa-Maschine. Ulrich Wegener, Chef des GSG-9-Kommandos, das die Maschine spektakulär befreite, war für mich ein Held. In jenen Tagen begann ich auch, mir die Haare nach dem Vorbild von Bundeskanzler Helmut Schmidt zu scheiteln.
Peter Gauweiler mahnt im Gespräch mit der JF (siehe Seite 3 der aktuellen Ausgabe), bei der Abrechnung mit 1968 nicht „immer noch eins draufzusetzen“, statt die Feinderklärung zu verstärken, auch zu fragen, was gut an ’68 war. Zweifellos ist die monokausale Rückführung aller gesellschaftlichen Verfallserscheinungen – oder auch mancher begrüßenswerter Reformen – auf einige tausend radikalisierte Studenten unhistorisch. Tatsächlich rannten die 68er in vielen Fällen nur noch Türen ein, die bereits durch andere Prozesse sperrangelweit offen standen: So wurde die Veränderung der Sexualität Jahre zuvor durch die Antibabypille beschleunigt, und die überfällige Entkriminalisierung der Homosexualität lag ohnehin in der Luft.
Der aufklärerische Mythos gehört entzaubert
An 1968 machen wir einen kulturellen Umbruch fest, dem wir eine völlige Asymmetrie im politischen Meinungskampf verdanken, nach der die Linke per se das moralisch Gute und die Rechte das moralisch Böse verkörpert. Noch Mitte der sechziger Jahre war der antitotalitäre Konsens bestimmend, der eine Äquidistanz zu Kommunismus und Nationalsozialismus, Links- und Rechtsextremismus begründete. Ohne ’68 wäre die noch heute vorherrschende Verklärung linksextremer Gewalt zur Polit-Folklore nicht denkbar.
Der aufklärische Mythos von Liebe, Befreiung und Reform, der sich gnädig über die Revolte von ’68 legt und vor dem sich selbst der Springer-Verlag verneigt, der vor 50 Jahren Zielscheibe monatelanger brutaler Angriffe, Straßenschlachten war, er gehört entzaubert. Für viele Konservative war 1968 indes eine Initialzündung. Caspar von Schrenck-Notzing meinte, im Sinne von „Challenge and response“ habe es daraufhin zahlreiche Gegenreaktionen provoziert.
Karlheinz Weißmann, dessen Buch „Kulturbruch ’68“ den Anstoß für die in dieser Ausgabe startende Serie gibt, billigte den Achtundsechzigern zu, wenigstens mit einem recht gehabt zu haben: nämlich mit ihrer völligen Verachtung der politischen Feigheit des Bürgertums. Viele bürgerliche Institutionen, Parteien, Kirchen und Einzelpersönlichkeiten kapitulierten damals vor dem Ansturm. Vielleicht erleben wir aber gerade, daß das Pendel politisch nun zurückschlägt.
JF 14/18