Welche Partei ist die erfolgreichste des Vereinigten Königreichs? Nimmt man als Maßstab die Anzahl der Regierungsjahre, führen klar die Konservativen. Seit 1945 amtierten 47 Jahre lang Tory-Premierminister, 30 Jahre saßen Labour-Politiker in der Downing Street. Zwar hat Labour in der Nachkriegszeit mit dem Wohlfahrtsstaat – vor allem mit dem Gesundheitssystem NHS – das Land geprägt, in engem Bündnis mit den Gewerkschaften.
Doch Thatchers Wende der achtziger Jahre brach die Macht der Gewerkschaften und reformierte das Modell UK unter marktwirtschaftlich-kapitalistischen Vorzeichen. Die „Eiserne Lady“ Thatcher ist bis heute jener Geist der Konservativen, den die Kandidaten um die Johnson-Nachfolge beschwörend anrufen. Alle wollen „Thatcheristen“ sein.
Was aber bleibt von Boris Johnson? Nach drei tumultuösen Jahren muß er samt Ehefrau Carrie aus der Downing Street weichen, nachdem die Partygate-Enthüllungen und andere Affären das Vertrauen in den einst als Wahltriumphator gefeierten „Boris“ zerrüttet hatten. Er kann auf ein Erbe verweisen, das ihm einen wichtigen Platz in den Geschichtsbüchern zuweist: Johnson hat den Brexit durchgeboxt. Im Herbst 2019 gelang es ihm, die lähmende Blockade im Parlament zu durchbrechen und 2020 den EU-Austritt zu vollziehen. Damit hat er die Weichen für Jahrzehnte neu gestellt.
Das Königreich ist wieder eine unabhängige, souveräne Nation, deren Gesetze in Westminster, nicht in Brüssel beschlossen werden. Auch Labour mußte den EU-Austritt inzwischen zähneknirschend als irreversible Tatsache anerkennen. Oppositionsführer Keir Starmer verspricht nun „Make Brexit Work“: Angesichts vieler praktischer Probleme, vor allem für den Handel, aber auch in Nordirland, wolle er dafür sorgen, daß der Brexit besser funktioniere.
Tories liegen weit zurück
Laut Umfragen liegen die Konservativen nach den monatelangen Johnson-Eskapaden weit hinter Labour; gut acht Prozentpunkte beträgt der Rückstand. Sie müssen fürchten, daß Starmers Labour-Party zusammen mit den Liberaldemokraten bei den nächsten Parlamentswahlen Ende 2024 eine Mehrheit erringt. Die Abgeordneten der Konservativen sehen mit Schrecken in diesen Abgrund.
Beim Tory-Rennen um den Vorsitz deutet jetzt alles darauf hin, daß Liz Truss siegen wird. Die etwas spröde Außenministerin bemüht sich in auffälliger Weise darum, wie ein Thatcher-Klon daherzukommen. Sie verspricht sofortige massive Steuersenkungen, um die lahmende Wirtschaft zu beleben. Ihr Gegenkandidat Rishi Sunak, der ehemalige Schatzkanzler mit Migrations- und Multimillionärshintergrund, kämpft mit dem Malus, daß ihm die gestiegene Steuer- und Abgabenbelastung angekreidet wird. Truss wird wohl am 5. September als Siegerin aus der Tory-Urabstimmung hervorgehen, weil sie besser die Tory-Seelen zu streicheln vermochte.
Doch was kann sie noch erreichen? Seit 2010, seit zwölf Jahren, regieren die Konservativen das Land. In diesen Jahren ist Britannien kulturell weiter ins Rutschen geraten, und die Tories haben den Trend in Richtung Wokeness nicht aufhalten können: Black Lives Matter heizte endlose quälende Debatten über „strukturellen Rassismus“ an, Aktivisten kämpfen für die „Dekolonisierung“ aller Lehrpläne bis in die Kindergärten hinein an; linke Demonstranten stürzten in dreister Selbstermächtigung Statuen und warfen sie ins Wasser. Erst als die Churchill-Bronze vor dem Parlament mit „Rassist“ beschmiert wurde, kippte ein wenig die Stimmung.
Die Linke dominiert kulturell
Jahrzehntelange außereuropäische Einwanderung hat das Land ethnisch radikal verändert, am stärksten die Hauptstadt und Nordengland. Etwa zwanzig Prozent der Labour-Abgeordneten sind nichtweißer Hautfarbe, bei den Tories sind es sechs Prozent. Bei der „Leadership Race“ der Tories besaß fast die Hälfte der anfänglichen Kandidaten familiäre Wurzeln in ehemaligen Kolonien in Asien (Indien, Pakistan) oder Afrika. Bemerkenswerterweise stehen manche nicht-weiße Konservative klar auf dem rechten Parteiflügel, etwa Innenministerin Priti Patel, eine Haßfigur der Linken, die versucht, mit einer restriktiven Einwanderungspolitik und dem (bislang nicht funktionierenden) Ruanda-Plan die Welle illegaler Bootsmigranten zu stoppen. Kemi Badenoch, die aus Nigeria stammt, gilt als mutigste und klügste „anti-woke“ Politikerin der Tories. Sie dürfte im nächsten Kabinett eine bedeutende Rolle spielen.
Trotz langer Tory-Regierungsjahre dominiert die Linke kulturell. Ihre „progressive Wokeness“ drückt sich im zwanghaften Anti-Rassismus- und penetranten Transgender-Diskurs aus, der inzwischen sogar den staatlichen Gesundheitsdienst NHS und die Medizinervereinigung infiziert hat, die biologiefern von „gebärenden (Trans-)Männern“ mit „Menschenmilch“ (statt Muttermilch) phantasieren. Das von Tony Blair ausgerufene „Cool Britannia“ hat nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem etwas steifen Königreich alter Schule. Zu Jubilee-Tagen flattern Union-Jack-Flaggen, ansonsten ist der regenbogene Pride-, Woke- und Diversity-Kapitalismus im Straßenbild und in der Werbung vorherrschend.
Noch unter Thatcher gab es in der Partei ein Bündnis aus Liberal- und Wertkonservativen, letztere sind in den Hintergrund getreten. Der Konservatismus der Tories beschränkt sich überwiegend auf Wirtschaftsliberalismus plus UK-Patriotismus, ethische Themen vermeiden sie. Das zeigt sich etwa in der Abtreibungsfrage. Jede vierte Schwangerschaft endet in Großbritannien mit Abtreibung, das Parlament hat kürzlich mit Tory-Unterstützung die „Do-it-yourself“-Abtreibung per Pille zu Hause dauerhaft ermöglicht. Nach dem Urteil des US-Supreme Court taten auch die britischen Konservativen überwiegend entsetzt.
Im Tory-Wahlkampf dreht es sich hauptsächlich ums Geld, um Steuern, Abgaben und Inflation. Außenpolitisch wird es bei der Linie Johnsons bleiben: Die Tory-Partei ist in der Hand der Brexiteers. Liz Truss gibt die Eiserne Lady gegen Putin. Allenfalls ein neuer persönlicher Stil dürfte mit ihr in die Downing Street einziehen. Aber auch Truss ist für die Linke ein rotes Tuch und wird polarisieren. Ob es ihr noch mal gelingt, die Umfragen herumzureißen und die nächste Wahl gegen Labour zu gewinnen, darf man bezweifeln.
JF 33/22