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Rußlands Angriff auf die Ukraine: Der Krieg ist zurück

Rußlands Angriff auf die Ukraine: Der Krieg ist zurück

Rußlands Angriff auf die Ukraine: Der Krieg ist zurück

Russische Soldaten: Die Dämonen des Krieges sind zurück
Russische Soldaten: Die Dämonen des Krieges sind zurück
Russische Soldaten: Die Dämonen des Krieges sind zurück Foto: picture alliance / EPA | STRINGER
Rußlands Angriff auf die Ukraine
 

Der Krieg ist zurück

Der russische Angriff auf die Ukraine versetzt Europa und Deutschland unter Schock: Mit einem Schlag verändern sich die Prioritäten, verwehen Illusionen und erleben wir die zweite Geburt einer Nation. Das stellt die Bundesrepublik vor neue Herausforderungen. Ein Kommentar von JF-Chefredakteur Dieter Stein.
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Zurück sind die Dämonen des Krieges mitten in Europa. In jeder Familie schlummerten sie vergessen in einer Ecke des Zimmers oder unter dem Bett. Verborgen waren sie in den Erzählungen der Großväter, der alten Tanten bei Jahre zurückliegenden Familientreffen, in den hintersten Winkeln unserer Erinnerungen verschlossen. Die Namen der Städte, um die in diesen Stunden junge Soldaten in der Ukraine kämpfen, rufen uns nun die Schlachten eines Weltkriegs ins Gedächtnis zurück, der die Vorstellungskraft der heute Geborenen übersteigt. 

Mit dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine im Morgengrauen des 24. Februar 2022 wechselte blitzartig die Agenda. Urplötzlich wurden die Prioritäten unserer Regierung korrigiert, sah die politische Klasse die Hierarchie der Ziele über Nacht vom Kopf auf die Füße gestellt. Bei der Sondersitzung des Bundestages am Sonntag verkündete Bundeskanzler Scholz die zügige Aufrüstung der Bundeswehr. Ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro soll unsere Armee in einen einsatzfähigen Zustand versetzen, der Generäle nicht mehr zu der Feststellung zwingt, daß unsere Streitkräfte „blank“ dastehen.

Das Lächeln und die Selbstgewißheit ist seit einer Woche aus den Gesichtern der Politiker gewichen. Die Sprache ist ausgetauscht. Dem letzten Deutschen muß spätestens jetzt wieder bewußt sein, wie verletztbar im Ernstfall ein Staat ist, der nicht vorgesorgt hat, dessen Souveränität sich nicht auf von ihm selbst kontrollierte Waffengewalt stützen kann. Allgemeingut wird mit den Bildern aus Kiew, daß militärische Bedrohung keine abstrakte Phantasie ist, sondern sich jetzt vor unseren Augen materialisiert.

Einsatz von Waffengewalt ist die „Ultima ratio“

Die Schocktherapie ging noch weiter: Als der russische Präsident an seinem langen Konferenztisch Verteidigungsminister Sergej Schoigu und dem russischen Generalstabschef Waleri Gerassimow am Sonntag befahl, die Bereitschaft der Atomwaffen des Landes höherzustufen, trat auch die Potenz der für die meisten noch abstrakteren Massenvernichtungswaffen ans Licht.

Wir werden gezwungen, die Wahrnehmung des Politischen neu zu kalibrieren, den Realitäten ins Auge zu sehen, Illusionen zu beerdigen. Die Jahrzehnte währende Abwesenheit des Krieges in Deutschland hat das Bewußtsein erlahmen lassen, daß Frieden nur um den Preis der Verteidigungsfähigkeit zu haben ist. Und daß die den kollektiven Willen voraussetzt, auch auf die „Ultima ratio“, den Einsatz von Waffengewalt, zurückzugreifen. 

Die Bundeswehr mußte, von den Auslandseinsätzen der letzten Jahre abgesehen, glücklicherweise nie für die Landesverteidigung oder den Bündnisfall in Europa eingesetzt werden. Welche existentielle Bedeutung die Abschreckung hat, die sich im Zweifel auch auf atomare Sprengköpfe gründet, die in Deutschland im Rahmen des Bündnisses stationiert sind, ruft uns Putin jetzt in Erinnerung. Daraufhin ist plötzlich sogar ernsthaft von atomarer Teilhabe Deutschlands, also Kernwaffen unter deutschem Kommando, die Rede, ebenfalls ein Tabu, das noch vor einer Woche nicht sachlich diskutiert werden konnte.

Abschied von einem wirklichkeitsfremden Menschenbild

Daß die Bundeswehr modernisiert wird, war überfällig – scheiterte bislang aber an einer pazifistisch gestimmten Öffentlichkeit. Jetzt soll sich das ändern. Entscheidend für einen wirklichen Paradigmenwechsel ist jedoch ein tiefgreifender Mentalitätswechsel. Dafür hätte schon der russische Einmarsch in Afghanistan 1979, der Epochenwechsel von 1989/90 mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, der 11. September 2001 sorgen müssen – was nicht geschah, weshalb auch jetzt große Skepsis angebracht ist. 

Es müßte nämlich grundlegende Remedur geschaffen werden: Abschied von einer illusionären, hypermoralisch „wertebasiert“ titulierten Außen- und Sicherheitspolitik, die auf der Chimäre künftiger Weltinnenpolitik basiert, einer Ordnung ohne Grenzen. Abschied von einem wirklichkeitsfremden Menschenbild, das einen Planeten ohne Konflikte und Interessengegensätze imaginiert. Abschied von einer illusionären und völlig fehlgeleiteten Energiepolitik, die bis zuletzt die Komponente politischer Erpreßbarkeit ignorieren zu können glaubte, die durch den Ausstieg aus Kernenergie und Kohle und damit verbunden den Anstieg der Abhängigkeit von russischem Gas entstand. Abschied von einer pazifistischen Mentalität, die von Medien und großen Teilen der Politischen Klasse gehätschelt wurde.

Daß eine linke Regierung in Deutschland die realpolitische Kehrtwende vollzieht, wäre eine Pointe, aber eine unwahrscheinliche, angesichts der Erfahrungen, die Kanzler, Minister und Staatssekretäre prägt. Männer und Frauen, die glauben, daß man sich durch die „Ochsentour“ hinreichend für höchste Ämter qualifiziert hat und meinen, daß Machtfragen mit Hilfe von Palaver, Strippenziehen und Intrigen gelöst werden.

Erlebt die Ukraine eine „zweite Geburt“?

Sie bekommen es mit einem Gegner zu tun, der von anderem Kaliber ist. Denn Putin setzt mit dem Angriff auf die Ukraine alles auf eine Karte. Offenbar wollte er mit Blick auf die ihm bleibenden Jahre die Entscheidung erzwingen, den russischen Machtbereich im Rahmen seiner historischen Revision unbestritten auf die Ukraine und im gleichen Zug Weißrußland auszudehnen. Er nimmt in Kauf, mit dem offen völkerrechtswidrigen Krieg auch die meisten seiner verbliebenen Fürsprecher im Westen vor den Kopf zu stoßen. Er manövriert sich in eine Lage, in der er moralisch nur verlieren kann. Zudem dürfte es auch nationalstolzen Russen schwer zu erklären sein, wofür blutjunge russische Soldaten hier in den Tod geschickt werden. Jeden Tag, den der Krieg länger dauert, blickt die Welt bewundernder auf ein ukrainisches Volk, dessen Kämpfern viele kaum Chancen gegen die übermächtige Militärmaschine Moskaus zugetraut haben und dessen Bürger jetzt unerschrocken um ihre Freiheit kämpfen.

Auch an dieser Stelle ergibt sich die Änderung eines bis dato vorherrschenden Bildes. Denn Zweifel an den realen nationalen Kohäsionskräften der Ukraine und dem Ethos ihrer Beamten und Soldaten gab es reichlich. Offenbar bedarf es hier einer Korrektur, und vielleicht erlebt die Ukraine in den Kämpfen dieser Tage jene „zweite Geburt“, mit der die Nationen ihre historische Existenz eigentlich erst beginnen.

Die deutsche Politik muß sich mit den anderen westeuropäischen Regierungen den Vorwurf machen lassen, bei der Ukraine in den letzten Jahren, ermuntert durch die USA, falsche und überschießende Erwartungen geweckt und sie im entscheidenden Moment im Regen stehen gelassen zu haben. Die ausgestellten Schecks auf EU- oder Nato-Beitritt waren nicht gedeckt und konnten auch vernünftigerweise nicht eingelöst werden. Die jetzt übers Knie gebrochenen Waffenlieferungen kommen wahrscheinlich zu spät und verfestigen das Bild einer inkonsistenten und unzuverlässigen Außenpolitik der EU. 

Deutschland muß seine nationalen Interessen definieren

Putin wiederum verschließt durch seinen imperialistischen Vorstoß den Spielraum, über einen neutralen Status der Ukraine noch zu verhandeln. Jetzt scheint es nur noch um alles oder nichts zu gehen. Er überreizt damit sein Blatt, und es könnte längst in seinem Rücken eine Front entstanden sein, die ihn aus seinen eigenen Reihen zu Fall bringt. 

Will Deutschland künftig seine Verantwortung im Zentrum des Kontinents wahrnehmen, steht es vor der Herausforderung, endlich seine nationalen Interessen zu definieren. Die Garantie der Sicherung der Souveränität der ostmitteleuropäischen Nationalstaaten ist hier ein zentraler Punkt. Dazu gehört, die Frage der nationalen und europäischen Sicherheit nicht im Ernstfall an die USA zu übertragen – sondern über ein ausreichendes eigenes militärisches Potential zu verfügen, das Deutschland auch wieder zu einem ernstzunehmenden Faktor macht. Das berührt den Kern des deutschen Selbstverständnisses: Ist unsere Mission, daß wir uns als Nation auflösen – oder teilen wir das Interesse der relevanten anderen europäischen Nationen, die auch im Rahmen der EU nicht das Ziel verfolgen, ihre Staatlichkeit und Selbstbehauptung aufzugeben? 

Die Beantwortung dieser Frage ist für unsere Zukunft entscheidend, und möglicherweise kann der Ukraine-Krieg, trotz allem Schrecken und allem Elend, den er mit sich bringt, vielleicht der Katalysator sein, der zur Beschleunigung dieses Prozesses beiträgt.

JF 10/22

Russische Soldaten: Die Dämonen des Krieges sind zurück Foto: picture alliance / EPA | STRINGER
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