Was sind diese Zahlen, wenn nicht ein Alarmsignal, freilich bei weitem nicht das erste: 2020 registrierte das Bundeskriminalamt erneut die höchste Zahl antisemitischer Straftaten seit Beginn der Erfassung 20 Jahre zuvor; 2.351 waren es. Besonders problematisch: Seit 2015 steigen die Zahlen kontinuierlich an.
Es ist daher gut, daß der Verfassungsschutz am Mittwoch ein weiteres Lagebild zum Antisemitismus veröffentlicht hat. Der Bericht ist eine Fortführung des ersten Lagebildes von 2020. Judenhaß ist ein Grundübel von Gesellschaften, das immer auch diesen selbst geschadet hat und deswegen schon aus Eigeninteresse bekämpft werden müßte.
Leider steht dem bis heute das instrumentelle Verhältnis der Politik insgesamt gegenüber. Und dieses manifestiert sich auch in dem Lagebild, vor allem aber in der es begleitenden Stellungnahme der Innenministerin.
40 Seiten zum Rechtsextremismus, 5 Seiten zum Linksextremismus
Zwar stellt der Bericht selbst ausdrücklich fest, daß Antisemitismus „in allen extremistischen Phänomenbereichen“ und auch in der gesellschaftlichen Mitte verbreitet sei. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung ist dann allerdings unausgewogen: 40 Seiten widmet das Lagebild dem rechtsextremen Antisemitismus, hingegen gerade einmal fünf Seiten dem linksextremen.
Für islamistischen und auslandsbezogenen Antisemitismus kommen immerhin 30 Seiten zusammen. „Antisemitismus im Kontext der Corona-Pandemie“ wird pauschal dem Rechtsextremismus zugeschlagen, obwohl die politische Heterogenität etwa der Coronamaßnahmen-Proteste hinlänglich bekannt ist.
Die Unausgewogenheit dürfte auch daran liegen, daß sich die Politik noch immer an der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes orientieren, die auch im Lagebild abgedruckt ist. Dort sind für 2020 rund 95 Prozent aller antisemitischen Straftaten der Kategorie „rechts“ zugeordnet. Daß diese Statistik die Realität verzerrt, ist inzwischen allgemein bekannt: Nicht zuzuordnende Straftaten werden oftmals einfach als „rechts“ verbucht.
Faeser redet über „Ungeimpft“-Sterne anstatt über körperliche Gewalt
Vor allem ernüchternd ist jedoch die Stellungnahme, mit der Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Veröffentlichung des Lagebilds am Mittwoch flankierte. Faeser machte in einer schriftlichen Äußerung deutlich, daß sie in dem Bericht nicht zuletzt eine Bestätigung ihres „Aktionsplans gegen Rechtsextremismus“ erblickt.
Kein Wort verlor sie dagegen zum islamischen Antisemitismus, kein Wort zum auslandsbezogenen Antisemitismus, auch kein Wort zum linksextremen Antisemitismus. Die Erkenntnis, daß Antisemitismus eben kein ideologiespezifisches Problem ist, scheint zu ihr noch nicht vorgedrungen.
Darüber hinaus betonte Faeser vor allem ihr Entsetzen darüber, „wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde“. Daß die Ministerin ausgerechnet darin eine Quintessenz des Lagebildes und des Antisemitismus-Problems erblickt, während es im vergangenen Jahr zugleich zahlreiche schwerste gewalttätige Übergriffe auf Juden gab, läßt tief blicken.
Alle Seiten in der Pflicht
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wirklich bekämpfen läßt sich der Antisemitismus erst, wenn Schluß ist mit der Instrumentalisierung des Problems zu eigenen politischen Zwecken; wenn bei der Bekämpfung nicht immer mitgedacht wird, welcher antisemitische Vorfall einem selbst am besten ins Konzept des eigenen Weltbildes paßt – so wie für Faeser die „Ungeimpft“-Sterne (deren antisemitischer Gehalt übrigens selbst zu diskutieren wäre) ihr negatives Bild von den Corona-Demos bestätigten und sie wohl deswegen genau hierauf rekurrierte.
Es gibt rechten Antisemitismus, es gibt linken Antisemitismus, es gibt islamischen sowie arabischen Antisemitismus. Alle müssen gleich hart bekämpft, die Hintergründe und Ursachen benannt werden – ohne ideologische Scheuklappen und von allen politischen Seiten. Anfangen müßte die Innenministerin. Das bleibt bis auf Weiteres wohl ein frommer Wunsch.