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Corona-Krise: Zu spät, zu wenig

Corona-Krise: Zu spät, zu wenig

Corona-Krise: Zu spät, zu wenig

Mobiles Corona-Abstrichzentrum
Mobiles Corona-Abstrichzentrum
Mobiles Corona-Abstrichzentrum in Baden-Württemberg Foto: picture alliance/Uwe Anspach/dpa
Corona-Krise
 

Zu spät, zu wenig

Bereits Ende Januar war absehbar, daß sich aus der COVID-19-Epidemie in China eine Pandemie entwickeln wird. Spätestens da hätte man in Europa und Deutschland entsprechende Vorbereitungen und Maßnahmen treffen müssen. Aber es wurde leider viel zu spät gehandelt. Denn die Zahl der tatsächlich Infizierten ist deutlich höher als die der positiv Getesteten.
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Der Legende nach hat der Erfinder des Schachspiels, der Inder Sissa ibn Dahir, seinen Herrscher Shihram, der ihm aus Dank ein Geschenk seiner Wahl angeboten hat, gebeten, ihm soviel Weizen zu geben, wie sich ergäbe, wenn man auf das erste Feld des Schachbrettes 1 Weizenkorn, auf das zweite Feld 2 Körner, das dritte Feld 4 Körner, das bedeutet: auf jedes weitere der insgesamt 64 Felder immer die doppelte Menge der Körner des vorangehenden Feldes legen würde.

Der Herrscher sagte sofort zu, aber er konnte die Bitte des Erfinders nicht erfüllen: Wenn man die Gesamtzahl der exponentiell zunehmenden Anzahl an Weizenkörnern ermittelt, ergibt sich die Zahl N=264-1. Das entspricht mehr als dem Tausendfachen der heutigen Weltweizenproduktion.

Menschen denken linear, nicht exponentiell

Auch die Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus folgt einer exponentiellen Funktion, das heißt: Jeder Patient infiziert etwa zwei bis 2,5 weiterer Personen. Diese „Basisreproduktionszahl“ wurde dem „Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019“ entnommen, der in China erstellt wurde, als die dortige Epidemie bereits weitgehend abgeklungen war.

Weitere wichtige Ergebnisse dieser Untersuchung sind eine mittlere Inkubationszeit von ca. sechs Tagen (Zeitspanne zwischen der Infektion und dem Auftreten der ersten Symptome) und eine weitere darauf folgende Zeitspanne von etwa zehn Tagen, bis der Patient die Symptome nicht mehr abtut, sondern als so schwerwiegend empfindet, daß er einen Arzt aufsucht und die Viren letztlich in einem Rachenabstrich nachgewiesen werden. Insgesamt vergehen somit rund 16 Tage von der Infektion bis zur Definition als „bestätigter Fall“.

Wesentlich mehr Menschen real infiziert

Eine Analyse der vom Robert-Koch-Institut täglich publizierten Zahlen der „bestätigten Fälle“ zeigt, daß diese in der Zeit vom 24. Februar (16 Fälle) bis zum 16. März 2020 (6.012 Fälle) mit nur sehr geringen Abweichungen einer Exponentialfunktion mit der Basis 1,33 und der Zeitdauer in Tagen als Exponent folgen. Dies bedeutet, daß die Anzahl der nachweislich infizierten Personen in Deutschland jeden Tag um über 30 Prozent zugenommen hat oder aber, anders ausgedrückt, sich die Fallzahl alle 2,4 Tage verdoppelt, alle 8 Tage verzehnfacht und alle 16 Tage, der Zeitspanne zwischen Infektion und Anerkennung als „bestätigter Fall“, verhundertfacht.

Folglich muß man die Anzahl der bestätigten Fälle mindestens mit 10 multiplizieren, um die Anzahl der zu diesem Zeitpunkt bereits real infizierten Menschen abzuschätzen, am 16. März 2020, dem Beginn einschneidender Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus also 60.000 statt 6.000.

Extrapoliert man den bisherigen Verlauf, so werden am heutigen 18. März etwa 100.000 und am 27. März bereits 1 Million Menschen infiziert sein. Ganz so schnell wird es zum Glück nicht gehen, weil sich bei zunehmender Durchseuchung die Verbreitung des Virus verlangsamt und auch ohne Maßnahmen bei 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung zum Erliegen kommt, so wie es auch das Bundeskanzleramt vor einigen Tagen bekanntgegeben hat.

Stoppen der Epidemie auf dem Niveau von China (noch) möglich

Wenn die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Infektion so radikal und erfolgreich wären, daß die Basisreproduktionszahl unter 1,0 fällt, kommt die Epidemie früher zum Stillstand, wie der Verlauf in China gezeigt hat, wo nach Einführung drastischer Schutzmaßnahmen am 29. Januar 2020 (6.000 Fälle) die Zahl der Neuinfektionen etwa acht Tage später ein Maximum erreichte und die Gesamtzahl der bestätigten Fälle sich nach ca. 16 Tagen bei 70 bis 80 Tausend stabilisierte.

Wenn man noch heute ähnlich drastische Maßnahmen in Deutschland umsetzen würde, könnte in Analogie zu China ein ähnlicher Verlauf mit unter 100.000 Infizierten und weniger als 4.000 Todesfällen erreicht werden. Bezogen auf die Bevölkerungszahl wäre allerdings selbst dieser Schaden mehr als 15 mal so hoch wie in China.

Sollte es dagegen nicht gelingen, die Basisreproduktionszahl unter 1,0 zu drücken, so wird die Epidemie erst bei einem sehr hohen Durchseuchungsgrad zum Erliegen kommen und bei der in China gefundenen Letalität von knapp vier Prozent sowie bei einer finalen Infektion von 60 Prozent der Bevölkerung zu fast zwei Millionen Todesfällen führen.

Europa hat viel zu spät und zurückhaltend reagiert

Bei der bekannten Verzehnfachungsrate von acht Tagen hätte man den zu erwartenden Schaden (Anzahl der Infizierten und der Todesfälle) bei Ergreifen strikter Schutzmaßnahmen bereits vor acht Tagen um das Zehnfache und vor 16 Tagen um das Hundertfache reduzieren können. Das gilt letztlich auch für ganz Europa. Aber es wurde leider viel zu spät gehandelt.

Da bereits Ende Januar absehbar war, daß sich aus der COVID-19-Epidemie in China eine Pandemie entwickeln wird, hätte man bereits zu diesem Zeitpunkt ähnliche Vorbereitungen wie in China treffen können, wie ausreichende Mengen an Verbrauchsmaterialen zu produzieren, zusätzliche Intensivbetten oder ganze Spezialkliniken aufzubauen und konkrete Notfallpläne aufzustellen. Das ist aber leider nicht geschehen.

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Dr. Reinhard Geßner, Jahrgang 1956, hat Biochemie und Medizin an der Freien Universität Berlin, am M.I.T. und in Harvard studiert, in der Strukturbiologie und Zellbiologie in den USA und in Deutschland geforscht und ist als Facharzt für Laboratoriumsmedizin an Universitätskliniken tätig.

Mobiles Corona-Abstrichzentrum in Baden-Württemberg Foto: picture alliance/Uwe Anspach/dpa
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