Es gibt auch noch gute Nachrichten: zu diesen gehört „das allmähliche Erwachen der Gerichte aus der Schockstarre, in die sie unter der Wucht der Ereignisse zunächst verfallen zu sein schienen“, wie der Frankfurter Rechtsphilosoph Uwe Volkmann vor zwei Wochen in der Neuen Juristischen Wochenschrift konstatierte.
Diese Diagnose hat sich seither bestätigt. Während die Gerichte seit März in den zahlreichen einstweiligen Rechtsschutzverfahren zunächst selbst hanebüchene staatliche Maßnahmen durchwinkten – wie etwa das Verbot für Großstädter, sich zeitweilig aufs Land zurückzuziehen – , wird nun der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker zur Geltung gebracht.
Dieser erfordert es unter anderem, grundrechtsbeschränkende Maßnahmen mit differenzierten, auf konkrete Tatsachen gestützten Gefahrenprognosen jedenfalls nachvollziehbar zu begründen. So haben Oberverwaltungsgerichte die Beherbergungsverbote in Baden-Württemberg und Niedersachsen zu Fall gebracht, nur das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat dies im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes noch abgelehnt. Dies ist aber schon insofern zweifelhaft, als Beherbergungsverbote im Infektionsschutzgesetz gar nicht ausdrücklich vorgesehen sind.
Die „Mischverwaltung“ ist verfassungsrechtlich verboten
Das grundsätzliche Problem wird aber durch die nun wiedererwachte Grundrechtssensibilität der Gerichte gar nicht berührt. Zahllose und vorher unbekannte Grundrechtsbeschränkungen werden seit März auf Rechtsverordnungen der Landesregierungen gestützt, die ihrerseits auf einer völlig vagen Allgemeinermächtigung in § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz („die zuständige Behörde trifft die notwendigen Schutzmaßnahmen“) beruhen.
Die Entscheidung über mannigfaltigste und teils phantasievoll erdachte Grundrechtsbeschränkungen treffen also ausschließlich Verwaltungsbehörden wie das Bundesgesundheitsministerium (das zu „bundesunmittelbarer Verwaltung“ jedoch gar nicht befugt ist, denn dies müßte im Grundgesetz vorgesehen sein!) und die Innenministerien der Bundesländer. Durch deren Maßnahmen ist in der Vergangenheit auch die Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt worden; dabei kommt gerade in politischen Ausnahmesituationen der Versammlungsfreiheit ein besonderes Gewicht zu.
Das in der Sache hinter diesen Maßnahmen stehende Gremium, nämlich eine unregelmäßig tagende Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten, ist verfassungsrechtlich nirgendwo vorgesehen. Die „Mischverwaltung“ – das heißt eine die Zuständigkeiten verwischende Kollegialverwaltung des Bundes und der Länder, wie eben hier – ist verfassungsrechtlich klar verboten.
Das Parlament wird übergangen
Noch frappierender ist allerdings, daß der Deutsche Bundestag seit Ausrufung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ gemäß § 5 Infektionsschutzgesetz (eine Befristung ist dort übrigens nicht vorgesehen!) eigentlich keine Rolle mehr spielt. Bereits seit der „ersten Griechenland-Rettung“ im Frühjahr 2010 ist die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland in eine tiefe Krise geraten; sinnfälliger Ausdruck dieses Verfassungswandels sind die Pläne zum Ausbau des Bundeskanzleramts, der ohnehin schon größten Regierungszentrale der Welt, zu einer Art „verbotenen Stadt“.
Kein vernünftiger Mensch bestreitet die Gefahren der Epidemie. Schwere Verlaufsformen können sich sehr wohl auch bei jungen Menschen einstellen. Der offenbar nur sehr geringe Prozentsatz von infizierten oder auch nur positiv getesteten Personen, der überhaupt Krankheitssymptome entwickelt, kann sich bei hinreichender Verbreitung zu hohen absoluten Zahlen von Erkrankten aufaddieren. Faktische Gefahren rechtfertigen aber noch keine Grundrechtseingriffe; dies können nur hinreichend bestimmte parlamentarische Gesetze (!).
So haben wir seit vielen Jahren schon, und zwar nach vorsichtigsten Schätzungen, etwa 20.000 Tote im Jahr allein durch resistente Krankenhauskeime (nach anderen Schätzungen sind es noch viel mehr). Irgendwelche staatlichen Notstandmaßnahmen wurden deswegen nie erwogen, die Toten als allgemeines Lebensrisiko hingenommen. Auch mehrere Grippewellen in den letzten Jahren mit spürbarem Ansteigen der Jahresmortalität (die gegenwärtig nicht feststellbar ist) wurden von den Massenmedien praktisch ignoriert und waren mithin auch für die Politik kein Thema.
Überparteiliche parlamentarische Initiative nötig
Die Entscheidung darüber, welche potentiellen Gefahren unter welchen genauen Umständen welche staatlichen Grundrechtseingriffe rechtfertigen, treffen im Staat des Grundgesetzes weder die WHO noch die Massenmedien, noch das Bundeskanzleramt, sondern allein der Deutsche Bundestag.
Daher muß sich zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände nun eine überparteiliche parlamentarische Initiative zur Neufassung des geltenden Infektionsschutzgesetzes bilden. Im Gesetz wären dann konkrete Verdachts- und Gefahrenschwellen und je nach betroffenem Grundrecht differenzierende Eingriffsvoraussetzungen zu formulieren sowie eine notwendige Befristung des viralen Ausnahmezustandes und die ihn begleitenden Kontroll-, Berichts- und Evaluationspflichten vorzusehen.
Zwischen Normallage und Ausnahmezustand wäre klar zu unterscheiden. Es müßte wieder der Satz zur Geltung gebracht werden, daß eine einfachgesetzliche Grundrechtseingriffsermächtigung um so klarer, eindeutiger und spezifischer formuliert sein muß, je intensiver der Grundrechtseingriff ausfällt.
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Dr. Ulrich Vosgerau ist habilitierter Verfassungsrechtler und lehrte an mehreren Universitäten.
JF 44/20