Mit dem Tod Jacques Chiracs stirbt nicht nur einer der wichtigsten Staatsmänner der jüngeren Geschichte – es stirbt ein Stück jener alten Ordnung, nach der sich viele Konservative und Bürgerliche zurücksehnen. 1995 beendete er mit seinem Amtsantritt als französischer Staatspräsident 14 Jahre sozialistische Dominanz und blieb bis 2007 an der Spitze des Landes. Gegen das krisengeschüttelte Frankreich der Gegenwart erscheint sein Mandat wie eine Ära von Stabilität, Wohlstand und außenpolitischer Stärke.
Tatsächlich besteht aus Chiracs Regierungszeit der Stoff ,aus dem „gute, alte Zeiten“ gestrickt sind. Nach Wachstumsraten von drei Prozent kann sich die französische Wirtschaft heute nur zurücksehnen. Zweimal – 2001 und 2006 – sank sogar der Schuldenstand, der sich zwischen 60 und 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einpendelte (heute: 98 Prozent).
Abgesehen von den Attentaten der GIA (le Groupe Islamique Armé), die ein Ausfluß des algerischen Bürgerkriegs waren, kannte Frankreich noch keinen islamischen Terror, wie er das Land seit diesem Jahrzehnt in Atem hält. Außenpolitisch hatte Frankreich die Kraft, eine eurasische Allianz zu formen, die aus Paris, Berlin und Moskau bestand. Zeitgenossen glaubten einen kontinentalen Brückenschlag von Lissabon bis Wladiwostok verwirklicht, der in Zukunft gegen die atlantischen Mächte USA und Großbritannien sowie das aufstrebende China aufgestellt sein würde.
Die Mythenbildung ist verständlich
Mit seiner gaullistischen Partei Rassemblement pour la République (RPR), die sich später zum Parteienbündnis Union pour un Mouvement Populaire (UMP) entwickelte, schaffte Chirac einen Zusammenschluß, der das gesamte Lager rechts der Mitte umfaßte.
Der Front National (heute Rassemblement National) mit Jean-Marie Le Pen galt damals noch als rechtsextremer, exotischer Außenseiter. Ergebnisse von über 40 Prozent brachten Chirac und seiner Partei nicht nur politische, sondern auch öffentliche Mehrheiten, um handlungsfähig zu bleiben. Massendemonstrationen waren unter Chirac noch Protestkundgebungen der Gewerkschaften und der Sozialisten.
Die Mythenbildung, die angesichts des Todes ehrwürdiger französischer Ersatzmonarchen einsetzt, ist in Anbetracht mangelnder Staatsmänner ähnlichen Formats verständlich. Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß schon unter Chirac jene Symptome deutlich wurden, die das Schicksal des französischen Staates und der europäischen Politik prophezeiten.
Auch die CDU zehrt bis heute von ihrem Übervater
Chiracs Amtszeit war die Amtszeit der Unruhen in den Pariser Vororten, die das Ende des multikulturellen Traums enthüllten. Es war die Amtszeit eines gescheiterten Referendums über die EU-Verfassung und des damit einhergehenden Ausfalls, als er alle Gegner von oben herab abkanzelte. Es war die Amtszeit, die – ähnlich wie bei Helmut Kohl in Deutschland – der Beginn einer konservativen Wende sein sollte, aber bereits nach einem Jahr erstickt wurde.
Die CDU zehrt bis heute von ihrem Übervater Konrad Adenauer. Das Bild dieser alten CDU dominiert Deutschland, trotz Aussetzung der Wehrpflicht, trotz Energiewende, trotz „Ehe für alle“. Der Mythos CDU ist zu groß, als daß tagesaktuelle Handlungen der Kanzlerin diesen ins Wanken bringen. Ähnlich wie die CDU vom Erbe Adenauers zehrt, zehrte Chiracs Partei vom Erbe Charles de Gaulles. Am Ende seiner Amtszeit zeigte sich, daß dieses Erbe aufgebraucht war.
Die UMP hat es in ihrer stärksten Phase versäumt, das Land so zu prägen, daß es dem linken Zeitgeist widerstehen konnte. Skandale um illegale Parteienfinanzierung und Veruntreuungen beschädigten Chiracs Ansehen nach seinem Amtsabschied. Die Republikaner kamen als Nachfolger der UMP bei der letzten EU-Wahl auf weniger als neun Prozentpunkte.
Erosion der rechten Mitte
Die Erosion der rechten Mitte – so, wie sie in Italien geschehen ist, im Vereinigten Königreich anläuft, und in Deutschland bevorsteht – konnte er nicht aufhalten. Was Chirac jedoch aufhielt, war eine Spaltung der Gesellschaft, wie sie unter den späteren Präsidenten aufbrach.
Der Mann, der fast zwei Jahrzehnte auf dem Bürgermeistersessel von Paris saß, war einer der letzten Politiker, auf den sich die Franzosen einigen konnten. Womöglich, weil er das, was heute viele als „Populismus“ schelten würden, mit der ihm eigenen Eleganz verband. Chirac war in außenpolitischen Belangen als Hardliner, der die Parole eines „France first“ unterschrieben hätte – und noch 2006 mit möglichen Nuklearschlägen drohte, um Staaten einzuschüchtern, die Terrorismus unterstützten.
Eine engere europäische Integration trieb er voran, weil er dadurch eine Stärkung Frankreichs vermutete, die wichtigen Agrarsubventionen verteidigte er wie ein Löwe sein Rudel. Er kämpfte als Soldat im Algerienkrieg und absolvierte die französischen Eliteschulen; er inszenierte sich als Freund der Bauern und als stilsicherer Gentleman; er lebte in einem Palast und schaute am liebsten Western.
Chirac spielte nicht nur die Rolle des volksnahen Vaters der Nation: er verkörperte sie. Das Volk braucht keinen Populismus, wenn es glaubt, daß der König einer von ihnen ist. Der Kontrast zum selbstgefälligen Sonnenkönig, der heute im Élysée-Palast sitzt und sich selbst für den Staat hält, könnte kaum größer sein.