Karl Schiller, Super-Minister für Wirtschaft und Finanzen in der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt, warnte einst die Parteitagsdelegierten 1971 vor sozialpolitischen Abenteuern: „Genossen, laßt die Tassen im Schrank.“ Etwa ein Jahr danach trat der seinerzeit populärste Politiker entnervt zurück. Zuvor, nach zwanzig Jahren ununterbrochener Unions-Regentschaft, war der SPD der Regierungswechsel 1969 auch deshalb gelungen, da sie anerkannte Persönlichkeiten in ihren Reihen vorweisen konnte. Neben Brandt Helmut Schmidt, Carlo Schmid, Herbert Wehner.
Ein halbes Jahrhundert später geben der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert und Parteichefin Andrea Nahles in der SPD den Ton an. Eifrige Apparatschiks, aber ohne jedes Charisma und intellektuellen Glanz. Gewissermaßen das letzte Aufgebot vor dem möglichen Absturz in die Bedeutungslosigkeit.
Einstimmiger Abkehr von Agenda 2010
Kein Geringerer als Gerhard Schröder, der bislang letzte SPD-Kanzler, machte jüngst den Niedergang der Sozialdemokratie am Spitzenpersonal fest. „Amateurfehler“ hielt er „Bätschi“-Nahles vor, der er wegen fehlender wirtschaftlicher Kompetenz die Fähigkeit zur Kanzlerkandidatur absprach. Und überhaupt, „Schlampigkeit im Kleidungsstil“ auf Parteitagen komme bei SPD-Wählern nicht gut an, befand der einstige Vorsitzende in Anspielung auf Kühnerts Kapuzenpullis.
Inhaltlich warnte die „Abrißbirne des Sozialstaats“, wie Nahles ihn damals schmähte, vor Änderungen seiner 2003 ins Werk gesetzten Hartz-IV-Arbeitsmarktreformen. Vergeblich. Demonstrativ gut gelaunt verkündete Nahles den endgültigen Bruch mit Schröders Agenda 2010. „Sozialstaat 2025“ lautet die neue Zauberformel, die den Wiederaufstieg der SPD einleiten soll. Der 45köpfige Parteivorstand hat das Papier in seltener Einstimmigkeit verabschiedet.
Das neue Konzept illustriert den Linksschwenk der SPD, der der Linkspartei inhaltlich zu schaffen machen dürfte. „Von uns abgeschrieben“, giftete denn auch Parteichef Bernd Riexinger, der von den weitreichenden SPD-Plänen offenbar überrascht wurde. So soll es anstelle von Hartz IV ein Bürgergeld geben.
Heil nimmt die Rentner ins Visier
Das Arbeitslosengeld I, das in der Regel 12 Monate gezahlt wird, bevor es durch das deutlich niedrigere Hartz IV abgelöst wird, soll bis zu 33 Monate gewährt werden. Statt nach einem Jahr muß der Arbeitslose sein Gespartes erst nach drei Jahren antasten. Der Regelsatz für Hartz IV wird allerdings nicht erhöht. „Sinnwidrige Sanktionen“ insbesondere für junge Arbeitslose sollen abgeschafft werden. Mit der geplanten Kindergrundsicherung hätten Familien deutlich mehr Geld zur Verfügung als bisher. Die SPD will darüber hinaus ein Recht auf Heimarbeit („Homeoffice“) sowie die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde durchsetzen.
Die Rentner ins Visier genommen hat Sozialminister Hubertus Heil, der bis zum Sommer einen Gesetzentwurf für eine Grundrente vorlegen will. Geringverdiener, die 35 Jahre Beiträge gezahlt haben, sollen eine „Respektrente“ oberhalb der Grundsicherung bekommen, ohne die im Koalitionsvertrag vereinbarte Bedürftigkeitsprüfung.
„Ein finanzieller Kraftakt“, räumt der Ressortchef ein. Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, um die Sozialreformen zu finanzieren, sind aber tabu, da im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. So bleibt die Frage der Finanzierung unbeantwortet. Die AfD, die immer noch um ein rentenpolitisches Konzept ringt, dürfte gleichwohl den Vorstoß Heils aufmerksam zur Kenntnis nehmen. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer warnte indes vor einer „Rolle rückwärts in ein sozialpolitisches Denken des letzten Jahrhunderts“.
Im Osten droht die Marginalisierung
Mit ihrem Forderungskatalog hofft die SPD wieder in die Offensive zu kommen, nachdem sie in den Umfragen auf rund 15 Prozent abgestürzt und zeitweise sogar von der AfD in der Wählergunst überholt worden war. In Zeiten großer Veränderung und eines aufstrebenden Rechtspopulismus habe die SPD den Anspruch, „Zusammenhalt zu organisieren“, machte Generalsekretär Lars Klingbeil geltend.
„Daß das Profil der SPD geschärft werden muß, ist eine zentrale Erkenntnis, die wir nach der Bundestagswahl herausgearbeitet haben.“ Programmatischer Befreiungsschlag einerseits, pragmatischer Koalitionsvertrag andererseits – Nahles mußte kleinlaut einräumen, daß das „ganze Programm“ nicht in dieser Wahlperiode verwirklicht werden wird. Von einer „Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft“ war in der CDU die Rede. Man könne sich nicht vom Koalitionsvertrag absetzen und in eine andere Richtung rennen. Was Nahles sogleich bestritt: Sie bekannte sich zur Koalition und will auch die zum Jahresende anstehende Bewertung, ob diese fortgesetzt wird, gemeinsam mit der Union besprechen.
Europawahlen sind der Praxistest
Zuvor hat die SPD einen Wahlmarathon zu bestehen, dessen Ausgang parteiintern zu Spekulationen und Nervosität führt. Im Mai stehen die Europawahl und die Bürgerschaftswahl in Bremen an, im Herbst Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Nicht zu vergessen zehn Kommunalwahlen. Im Osten droht der SPD die Marginalisierung, in Brandenburg gar der Verlust der Regierung. Deshalb will sie „die Erinnerung an 30 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall mit einem neuen Aufbruch für Ostdeutschland verbinden“, wie es in dem Zwölf-Punkte-Papier heißt.
Die Angleichung der Ost-Renten an jene im Westen noch vor 2025, eine stärkere Anerkennung der Lebensleistung der Ostdeutschen und ein verbessertes Handynetz dürften dort leicht als programmatische Ladenhüter erkannt werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist für die SPD aber die Bremer Wahl. Seit 1946 stellt sie durchgehend den Bürgermeister, jetzt droht sie in ihrer Hochburg auf Platz zwei zurückzufallen. Nach der Klausurtagung verspüre sie „sehr viel Kraft und Optimismus“, meinte die intern angeschlagene Nahles. Der Praxistest beginnt mit den Wahlen am 26. Mai.
JF 8/19