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Beginn des Zweiten Weltkriegs: Der Wahrheit ins Gesicht sehen

Beginn des Zweiten Weltkriegs: Der Wahrheit ins Gesicht sehen

Beginn des Zweiten Weltkriegs: Der Wahrheit ins Gesicht sehen

Polen
Polen
Soldaten der polnischen Landesarmee marschieren im September 1939 durch ein Dorf im Raum Lublin Foto: picture alliance/akg-images
Beginn des Zweiten Weltkriegs
 

Der Wahrheit ins Gesicht sehen

Der 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs sollte nicht dazu dienen, zu Moralisieren und die ewig gleichen, abgenutzten Floskeln zu wiederholen. Aber er wäre vielleicht eine gute Gelegenheit, endlich ein paar Wahrheiten ins Gesicht zu sehen. Eine Replik auf FAZ-Herausgeber Berthold Kohler von Karlheinz Weißmann.
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In der aktuellen Nummer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat deren Herausgeber Berthold Kohler einen Leitartikel zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns geschrieben. Es geht ihm dabei um die Lehren, die seiner Meinung nach aus der Selbstzerfleischung der europäischen Völker zwischen 1939 und 1945 gezogen werden sollten. Kohler hält entsprechende Mahnungen für nötig, da die Demokratie und der Frieden wieder bedroht werden: durch „Chauvinismus“ und „Revisionismus“ und die Sehnsucht nach „starken Männern“. Trump wird ausdrücklich genannt, als einer, der zudem das öffentliche Klima vergifte, Putin nicht. Ansonsten fällt noch der Name Björn Höckes, dem Kohler allerdings zubilligt, daß „kein Hitler 2.0 mehr“ aus ihm werde, obwohl man bedenken sollte, daß „auch der Österreicher bescheiden anfing, als Postkartenmaler“.

Solche Polemik ist ebenso billig wie Kohlers Seitenhieb gegen den US-Präsidenten und das Schlußplädoyer für Europa als „Kontinent der Vernunft, der Mäßigung und des Ausgleichs“. Denn das, was Kohler vor Augen steht, hat mit einem „Ausgleich“ gar nichts zu tun, nichts mit Geben und Nehmen, nichts mit irgendeiner Art verträglichem Kompromiß. Es geht vielmehr um Vorleistungen, die eine europäische Nation zu erbringen, und Belastungen, die eine europäische Nation zu tragen hat: die deutsche.

Kohler unterschlägt wichtige Details

Das gilt selbstverständlich im Hinblick auf die deutsch-französischen Beziehungen, die Kohler als vorbildlich erwähnt, aber mehr noch für die deutsch-polnischen. Nehmen wir die Versöhnungspolitik, die Kohler im Zusammenhang mit dem Brief der polnischen Bischöfe vom November 1965 hervorhebt. Unterschlagen wird da schon, daß der erste Schritt von deutscher Seite ausgegangen war, in Gestalt der „Ostdenkschrift“ der EKD. Mit der hatte sich der protestantische Dachverband nicht nur für die faktische Anerkennung des Verlusts der ostdeutschen Provinzen ausgesprochen, sondern diesen Schritt auch noch mit dem Ausgang des Krieges als „Gottesgericht“ und der „deutschen Schuld“ begründet.

Erst nach diesem theopolitischen Bekenntnis ließ sich die polnische Seite zu der oft zitierten Erklärung herbei: „Wir gewähren Vergebung und erbitten Vergebung.“ Aber die folgte nach einer ausführlichen Darlegung des deutschen Sündenregisters, einem sehr knappen Hinweis auf die der Vertreibung und die Annexionen, verbunden mit der sybillinischen Formel, man „müsse die Geschichte als geschehen betrachten“. Das konnte unter den konkreten Umständen nur heißen, daß sich die Deutschen gefälligst mit dem Status quo, das heißt dem Verlust Ostpreußens, Hinterpommerns, Ostbrandenburgs und Schlesiens, abfinden sollten.

Erwähnt werden sollte auch, daß der Inhalt des Schreibens durch einen Hirtenbrief der polnischen Bischöfe vom 10. Februar 1966 faktisch widerrufen wurde. Denn auf Grund massiven Drucks – nicht nur des Staates, sondern auch der Bevölkerung – erklärte der Episkopat nun, daß, stelle man die Frage, ob das „polnische Volk einen Anlaß dazu hat, seine Nachbarn um Vergebung zu bitten? Ganz bestimmt – nein.“

Polen wähnte sich als Sieger

An dem Selbstbild, das dieser Haltung zu Grunde liegt, hat sich offenbar bis heute wenig geändert. Was man zwar als unerfreulich, aber doch als innerpolnische Angelegenheit betrachten könnte. Wäre da nicht die Neigung, dieses „Narrativ“ als Druckmittel zu nutzen und die Bereitschaft auf deutscher Seite, sich dem zu fügen. Das war einmal ganz anders.

Erinnert sei deshalb an einen Aufsatz in der FAZ vom 31. August 1982 über neue Quellenfunde in britischen Archiven, darunter Berichte des Geheimdienstes über die Stimmung in Polen kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Regierung in London zeigte sich damals ausgesprochen beunruhigt durch die aggressive Grundhaltung ihres Verbündeten, der es ganz offensichtlich auf einen Krieg anlegte. Wie begründet die Sorge war, zeigten die Dokumente. So hatten die als Journalisten getarnten Agenten ein Interview mit einem General führen können, der während des Gesprächs einem Maler Modell saß. Das Bild stellte ihn zur Überraschung der Briten beim Einmarsch siegreicher polnischer Truppen durch das Brandenburger Tor dar!

Weiter hieß es in ihrem Protokoll:

„Die Polen glauben, daß in dem allgemeinen Krieg, der nach ihrer Ansicht einem deutschen Angriff gegen Polen folgen würde, Deutschland am Ende besiegt werden würde und daß die polnische Armee, wenn auch böse angeschlagen, dann aus den Pripjet-Sümpfen oder dem Urwald von Bialowiecza wieder hervorkommen und darangehen würde, sich eines Großpolens unter den durchaus gleichen Umständen wie 1919 zu bemächtigen. … Sie vertreten den Standpunkt, daß irgendeine Art von deutschem Zusammenbruch innerhalb eines Jahres nach dem Ausbruch eines allgemeinen Krieges eine sehr reale Möglichkeit sei; und wenn sie auch keinen Zweifel hegen, daß die Deutschen im Anfangsstadium außerordentlich gut kämpfen werden, sind sie zuversichtlich, daß der Ring halten und die Wirkung einer Blockade sich sehr viel eher bemerkbar machen wird als 1914-1918. … Jedenfalls schien es die allgemeine Auffassung zu sein, daß Ostpreußen von Polen annektiert werden müsse. Der stellvertretende Leiter der Abteilung Ost im Außenministerium ging tatsächlich so weit, klar zu sagen, daß dieses der polnische Plan sei. Er rechtfertigte ihn mit der Begründung, die Bevölkerung Ostpreußens sei im Abnehmen begriffen; daß vieles von dem Gebiet in Wirklichkeit sowieso polnisch sei, daß man jedenfalls Umsiedlungen vornehmen könne, und daß die Polen als junger und rasch wachsender Staat eine seiner Bedeutung angemessene Küstenlinie haben müsse.“

Niemand verlangt, daß die Allgemeinheit Kenntnis solcher historischen Details hat. Aber ein Blatt, das in Anspruch nimmt, für „kluge Köpfe“ zu schreiben, sollte dem Leser in bezug auf den deutsch-polnischen Konflikt wenigstens deutlich machen, daß der sich nicht allein aus Hitlers Kriegswillen oder dem Zusammenspiel zwischen dem Reich und der Sowjetunion erklären läßt.

Verschweigen der polischen Schreckensbilanz

In Berlin wie in Warschau war man auf einen darwinistischen Politikbegriff fixiert, hier wie dort hatte man es mit einer Diktatur zu tun: militaristisch, nationalistisch, antisemitisch und imperialistisch, und keineswegs ohne Sympathie füreinander, was noch an der Bereitwilligkeit abzulesen war, mit der sich Polen im Frühjahr 1939 an Hitlers Aufteilung der Tschechoslowakei beteiligt hatte. Womit noch kein Wort verloren ist darüber, wie die polnische Rache für deutsche Untaten aussah, die Verbrechen an deutschen Soldaten und Zivilisten, die Errichtung von Lagern, die dem Vergleich mit KZs problemlos standhielten, der völkerrechtswidrigen Vertreibung Hunderttausender und der völkerrechtswidrigen Aneignung fremden Hoheitsgebiets.

Wer das alles wieder und wieder verschweigt oder als „Aufrechnung“ für moralisch indiskutabel erklärt, dem muß man entgegenhalten, daß eine „Lüge“ – die Kohler mit scharfen Worten geißelt – nicht erst beginnt, wenn man die Unwahrheit sagt. Sie beginnt schon, wenn man Tatsachen bewußt verschweigt.

Solches Verschweigen im Hinblick auf den polnischen Anteil an der Schreckensbilanz der 1940er Jahre ist längst zu Gewohnheit geworden und hat offenbar die Vorstellung stark gemacht, daß es ein polnisches Recht auf Undankbarkeit gebe. Wie anders sollte man sich sonst erklären, daß im Rahmen der gegenwärtigen Reparationsdebatte niemand darauf hinweist, daß das Land seine EU-Mitgliedschaft im wesentlichen der Initiative deutscher Kanzler und deutscher Bereitschaft verdankt, tief in die Gemeinschaftskasse zu greifen. Es bleibt offenbar zuletzt bei der zynischen Einschätzung, die ein polnischer Staatspräsident auf die Formel brachte, Deutschland habe in den vergangenen Jahrzehnten auf den Knien gelegen, das sei sehr nützlich gewesen, weshalb es dabei bleiben sollte.

Partnerschaft bedeutet Gleichrangigkeit

Ganz so weit wird man in den anderen europäischen Hauptstädten nicht gehen. Aber es gibt nach wie vor ein stillschweigendes Übereinkommen, daß die Raison d‘être der westlichen Wertegemeinschaft darin besteht, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.

Das festzustellen, heißt keineswegs einer Wiederkehr der alten Feindbilder das Wort zu reden. Das festzustellen, heißt nur, ein Faktum zu benennen und denjenigen, die sich als unsere „Partner“ bezeichnen, klarzumachen, daß Partnerschaft, wenn überhaupt etwas, dann Gleichrangigkeit bedeutet. Der 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs sollte nicht dazu dienen, zu moralisieren und die ewig gleichen, abgenutzten Floskeln zu wiederholen. Aber er wäre vielleicht eine gute Gelegenheit, endlich ein paar Wahrheiten ins Gesicht zu sehen, auch wenn das Gesicht sehr häßlich ist.

Soldaten der polnischen Landesarmee marschieren im September 1939 durch ein Dorf im Raum Lublin Foto: picture alliance/akg-images
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