Alle vier Jahre läßt sich die Vertreibung aus dem Paradies genau datieren. Heuer fällt sie auf den Montag, den 25. September. Dann ist die Bundestagswahl gelaufen, ab dann gilt wieder der finanzielle Vorbehalt. Bis dahin aber leben die Familien in Deutschland im imaginären Saus und Braus, sorglos greifen sie nach den Früchten des Haushalts und alle sind glücklich. Mehr Kindergeld, kaum noch Belastungen, keine Gebühren von der Kita bis zum Magister, weniger Steuern, mehr Rentenansprüche, ein Baukindergeld – die Fantasie der Politiker sprudelt munter wie ein Brunnen inmitten grüner Auen.
Früher war die Verweildauer im Paradies noch etwas länger. Da erschienen viele Versprechungen noch vage in den Regierungserklärungen. Seit Schröders rotgrüner Koalition und Merkels Kombinationen ist es damit vorbei. Dabei sind zu Beginn dieser Ära, also ab 1998, gerade die Familienurteile des Bundesverfassungsgerichts gefällt worden. Diese Urteile, insbesondere Betreuungsurteil und Pflegeurteil, verlangten Gerechtigkeit für die Familie, nicht mehr und nicht weniger.
Die Leistung der Eltern sollte anerkannt werden
Von paradiesischen Zuständen, die nur in der Fantasie kinderloser Politiker existieren, war nie die Rede. Dafür umso mehr von der Erziehungsleistung. Damals, um 2000, debattierte man auch lange über ein Erziehungsgehalt, Biedenkopf sprach lieber vom Erziehungslohn, damit man den Lohn für diese Leistung auch unabhängig von Staat und Sozialamt denken könne. Die Richter nannten das den „generativen Beitrag“, der bei den sozialen Umlagesystemen wie Rente und Krankenkasse berechnet und vom finanziellen Beitrag abgezogen werden sollte.
Darum geht es: Die Leistung der Eltern sollte anerkannt werden. Für den wertneutralen, pluralistischen Staat heißt das in der Regel, mit Geld anerkennen. Unabhängig von steuerlichen, eigentumsbildenden oder sozialen Maßnahmen steht aber eine grundsätzliche Forderung im politischen Raum, die die Familie sofort und ohne Geldzuwendung aufwerten und außerdem das demokratische Gebot der Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von Alter und Stand erfüllen würde.
Es geht um das sogenannte Familienwahlrecht oder Wahlrecht ab Geburt. Diese Erfüllung würde zu einem veritablen Paradigmenwechsel in der Politik für Familien führen. Immerhin geht es um mehr als 13 Millionen Stimmen. Die Frage wird seit Jahrzehnten diskutiert. In der Tat ist die Geschichte des Wahlrechts die Geschichte von der Ausdehnung dieses Rechts, zunächst vom Adel auf den Geldadel, dann auf bestimmte Gruppen und Schichten von Männern, dann auf Frauen, dann auf jüngere Erwachsene. Dieser Verlauf folgt der Devise „one man one vote“. Aber er ist nicht konsequent zu Ende gebracht, denn Kinder und Heranwachsende sind noch nicht erfaßt.
Schon der Widerstand kannte Pläne für ein Kinderwahlrecht
Der Kreisauer Kreis um James Graf von Moltke dachte diese Option durch und sie gehört auch zum politischen Vermächtnis von Carl Goerdeler, der – zum Tode verurteilt – im September 1944 im Gefängnis mit Blick auf die künftige Neugestaltung Deutschlands schrieb: „Der Familie gebührt besonderer Schutz als der Zelle staatlichen Aufbaus. Das geschieht durch Zuweisung der Erziehungsaufsicht an sie… außerdem ist das Wahlrecht für Verheiratete mit mindestens drei Kindern bei dem Vater ein doppeltes.“
Das Goerdeler-Modell wäre vermutlich nicht verfassungskonform. Aber es gibt andere Modelle, die, wie ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages schon vor einiger Zeit belegte, dem Grundgesetz nicht widersprechen. Im Bundestag hat sich eine fraktionsübergreifende Gruppe in mehreren Legislaturperioden bemüht, das Thema „Wahlrecht für alle“ in den politischen Diskurs zu heben, bisher mit überschaubarem Erfolg, obwohl viele prominente Persönlichkeiten das Anliegen unterstützten, u.a. der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog.
Der Deutsche Familienverband (DJV) hat nun eine neue Initiative gestartet, um das Familienwahlrecht in die politische Debatte im Wahljahr einzuführen und damit den Parteien Gelegenheit zu geben, die Ernsthaftigkeit ihrer familienpolitischen Maßnahmen unter Beweis zu stellen (siehe www.wahlrecht.jetzt). Schirmherrin der Initiative ist die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt (SPD).
Wahlrecht ab Geburt steht im Einklang mit dem Grundgesetz
Im Rahmen dieser Initiative hat der renommierte Bevölkerungswissenschaftler und Nationalökonom Professor Herwig Birg, sich jetzt auch dafür ausgesprochen und gleich Kritik geerntet. Er hält die Einführung des Wahlrechts ab Geburt, stellvertretend ausgeübt von den Eltern, für einen Weg, der Geburtenbaisse entgegenzutreten. Denn dieses Wahlrecht für alle „würde die Politik dazu motivieren, sich mehr an den langfristigen Lebensinteressen der nachwachsenden Generationen zu orientieren und weniger am kurzfristigen Gewinn der Macht bei der jeweils nächsten Wahl“.
Ebenso wie das Eigentumsrecht ab Geburt stünde das Wahlrecht ab Geburt im Einklang mit dem Grundgesetz. Das Wahlrecht ab Geburt wäre nicht nur gut für die Kinder, sondern auch für die Älteren. Es würde wahrscheinlich dazu führen, daß sich wieder mehr Menschen für ein Leben mit Kindern entscheiden, und es könnte auch zu einer größeren Wahlbeteiligung beitragen.
Die Kritik an dem Wahlrecht ab Geburt bündelt sich vor allem in der Befürchtung, daß von diesem Wahlrecht besonders die Muslime und Zugewanderten profitieren würden, weil sie mehr Kinder bekommen als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Mehr muslimische Stimmen aber würden das demokratische Gefüge aushöhlen und einer Islamisierung Deutschlands Vorschub leisten. Birg räumt ein, daß ein Wahlrecht ab Geburt das Stimmengewicht der Zugewanderten insgesamt wegen ihrer höheren Geburtenrate „zweifellos begünstigen“ würde.
Zuwanderer bekommen mehr Kinder
Die Geburtenzahl pro Frau liege aber „bei den Zugewanderten insgesamt, also einschließlich der Muslime, ebenso wie bei den Deutschen unter zwei“. Deshalb würde die Zahl der Zugewanderten und ihrer Nachkommen nach Abklingen des positiven Effekts ihrer jungen Altersstruktur ohne immer neue Zuwanderungen ebenfalls sinken, ähnlich wie die Zahl der Deutschen. Das hätten Simulationsrechnungen schon vor Jahren ergeben. Eine ausschlaggebende Frage ist also, wie die Zuwanderung zu stoppen oder zu verringern wäre.
Die Einführung des Wahlrechts ab Geburt würde außerdem, so Birg, „wahrscheinlich dazu führen, daß die Geburtenrate der Deutschen stärker zunimmt als die der Zugewanderten. Es wäre sogar möglich – nämlich bei einer verfassungsgemäßen Politik für die Familien mit Kindern – daß sich der Unterschied der Geburtenraten weitgehend angleicht. Würde man außerdem die doppelte Staatsbürgerschaft (und das doppelte Wahlrecht) abschaffen oder zumindest eindämmen, ließe sich die Begünstigung des Stimmengewichts der nicht-deutschen Wähler stark reduzieren“.
Unter dem Strich wären nach Birgs Einschätzung „die positiven Effekte wesentlich größer als der negative Effekt der ungewollten Begünstigung zugewanderter Wählergruppen“. Die Muslime als Teilgruppe der Zugewanderten müßten bei alledem gesondert betrachtet werden. Nach einer gerade erschienenen Untersuchung war die Geburtenrate der in Deutschland lebenden Türken immer schon höher als in der Türkei, aber beide Raten sinken von Jahrgang zu Jahrgang. Auch bei Italienern ist die Geburtenrate in Deutschland höher als in Italien, nicht jedoch bei Polen.
Mehr Kinder schaffen bessere Versorgung im Alter
Entscheidend für die Begünstigung muslimischer Wähler ist, wie schnell sich der Rückgang in der Zukunft fortsetzt. Und entscheidend für die Stabilität der Demokratie in Deutschland insgesamt ist, daß sich durch mehr Kinder die Versorgung der Eltern und aller anderen Älteren mit auskömmlichen Renten sowie mit Gesundheits- und Pflegeleistungen verbessern ließe.
Auf jeden Fall ist die neu aufkommende Diskussion über das Wahlrecht ab Geburt ein Test für die Ehrlichkeit der Politik und für die Ernsthaftigkeit ihrer familienpolitischen Versprechen. Der Vorschlag des Familienwahlrechts ist auf jeden Fall familienfreundlicher und zielführender als der Spaltungsvorschlag der SPD-Minister Maas und Schwesig nach der Einführung von Kinderrechten in die Verfassung.