Kehrtwende in Ankara: Gleich zwei nachbarschaftliche Konflikte hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in diesen Tagen aus der Welt geschafft. Sechs Jahre nach dem israelischen Militäreinsatz auf der türkischen „Solidaritätsflotte“ vor dem Gazastreifen wollen beide Länder wieder volle diplomatische Beziehungen aufnehmen.
Das verkündeten am Montag die Premierminister Benjamin Netanyahu und Binali Yildirim. Außerdem wird Israel für die Familien der bei der Aktion 2010 getöteten neun Türken einen Fonds mit insgesamt 20 Millionen US-Dollar einrichten. Auch eine neue Gaspipeline steht auf der Agenda.
Auch Erdogan muß Zahl seine Feinde überschaubar halten
Der türkisch-russische Konflikt war vergleichsweise kurz und begann mit dem Abschuß einer russischen Su-24 über dem türkisch-syrischen Grenzgebiet Ende November 2015. Nachdem Erdogan sich lange geweigert hatte, eine Schuld seines Landes anzuerkennen, trat er am Wochenende den Gang nach Canossa an. Der Brief, den er persönlich an den russischen Präsidenten Wladimir Putin richtete, entsprach offensichtlich den Erwartungen.
Eine Entschuldigung war von Anfang an Putins Bedingung für einen Dialog gewesen. Der russische Präsident, dessen Verhältnis zu Erdogan eigentlich als gut galt, war durch den Abschuß ganz offensichtlich emotional getroffen. Als Reaktion sanktionierte Rußland die Türkei mit einer Welle von Import-, Einreise- und Flugverboten. Die Zahl der russischen Türkeiurlauber, die zuvor das größte ausländische Kontingent gestellt hatten, schrumpfte bis Mai um über 90 Prozent.
Letztlich dürfte Erdogan verstanden haben, daß selbst ein Mann von seinem Format gut beraten ist, die Zahl seiner Feinde überschaubar zu halten. Schließlich liegt er auch nach den Avancen in Richtung Tel Aviv und Moskau immer noch mit Deutschland und den Vereinigten Staaten über Kreuz – mit den einen wegen der Armenienresolution des Bundestags, mit den anderen wegen Washingtons Unterstützung der Kurden in Syrien und im Irak.
Rußland muß Kompromißbereitschaft zeigen
Bei ihrem 40minütigen Telefonat am Mittwoch vereinbarten Putin und Erdogan außer einem baldigen Treffen die Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen und den Stop der Sanktionen. Russen werden wieder nach Antalya reisen, türkische Bauunternehmen sind weiter in Rußland unterwegs, und Rosatom baut das türkische Kernkraftwerk Akkuyu fertig. Putins größter Triumph dürfte sein, daß Ankara implizit die Rückkehr Rußlands als Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten anerkennt.
Das hatte in den Wochen nach dem militärischen Eingreifen Moskaus im vergangenen September noch ganz anders geklungen. Die Anerkennung der russischen Rolle bedeutet aber auch, daß Rußland Verantwortung und Kompromißbereitschaft zeigen muß. Schließlich beharrt Ankara weiter auf der Absetzung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Mit dem russisch-türkischen Tauwetter sind also längst nicht alle Stolpersteine aus dem Weg.
Offen ist, bis zu welchem Grad die neue Détente zwischen Ankara und Moskau sich auf die russische Kurdenpolitik auswirkt. Bis Ende 2015 hatte Moskau der türkischen Regierung in ihrem schwierigen Verhältnis zur kurdischen Minderheit den Rücken gestärkt.
Zankapfel PKK
Drei Monate nach dem Abschuß der Su-24, im Februar 2016, erlaubte Moskau dann der kurdisch-syrischen Gebietsadministration, eine russische Repräsentanz zu eröffnen. Seitdem unterstützt Rußland gemeinsam mit den USA die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) und andere Islamisten.
Die türkische Regierung will dagegen unter allen Umständen verhindern, daß die PYD ein durchgängiges Gebiet südlich der türkischen Grenze kontrolliert. Dort hatten syrische Kurden im März eine autonome Region ausgerufen. Noch allerdings existieren davon nur einige getrennte, kurdisch besiedelte Enklaven. Der breite Streifen zwischen den Regionen Cizîrê und Kobane im Osten und Afrin im Westen wird vom IS, der al-Nusra-Front und anderen Rebellen kontrolliert.
Zur Führung der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak unter ihrem Führer Mazud Basari unterhält Ankara vergleichsweise gute Beziehungen. Andererseits ist Basaris Regime alles andere als stabil. Ein Zankapfel ist die Rolle der PKK, der türkischen Kurdenpartei. Von Ankara als Terroristen heftig bekämpft, haben sich viele ihrer Anhänger in die Kandil-Berge auf irakisch-kurdisches Territorium zurückgezogen.
Nicht zu kontrollierende Frontlinien
Von dort würde Basari sie gern wieder vertreiben, während Amerika, Rußland, die irakischen Schiiten und der Iran froh sind, daß Kämpfer der PKK (ebenso wie der syrischen Kurdenmiliz YPG) in der gemeinsamen Front gegen den IS stehen. Angebliche Waffenlieferungen der Vereinigten Staaten an kurdische Freischärler sind Ankara ein Dorn im Auge. Auch der Westen, der die PKK ebenfalls als Terrororganisation listet, steht dabei mit seiner Politik im Widerspruch zu sich selbst.
Es werden nicht nur die Verluste der Tourismuswirtschaft sein, die Erdogan bewegt haben, einen Olivenzweig nach Moskau zu tragen. Die Frontlinien in dem mittelöstlichen Krisenherd, der zu gleichen Teilen Bürgerkrieg und Konfessionskrieg ist, sind längst nicht mehr zu kontrollieren.
Die immer häufiger werdenden Terroranschläge in türkischen Städten, aber auch die Flüchtlingsströme in die Nachbarländer und nach Europa geben eine Idee vom Potential und der Größenordnung des Konflikts. Wenn obendrein noch die beteiligten ausländischen Mächte, Türken, Russen, Europäer und Amerikaner, ihre eigenen Konflikte austragen, ist jede Hoffnung auf Befriedung der Region vergebens.