So eine Nacht wird wohl zu unseren Lebzeiten nicht mehr wiederkehren. Nach der überraschenden Öffnung der Berliner Mauer vor 25 Jahren, am 9. November 1989, entluden sich augenblicklich lange aufgestauter Schmerz, unterdrückte Trauer, eingepanzerte Verzweiflung und verwandelten sich in eine Welle unendlicher Freude und Begeisterung, die uns in einen Zustand glücklicher Schwerelosigkeit versetzte. Ausgerechnet der graue Monat November, der das Land sonst in Dunkelheit, Nässe und Kälte hüllt, schenkte unserer zerrissenen Nation den lange ersehnten politischen Frühling.
Mit Hammer und Meißel hieben wir auf die Mauer ein, die sich als riesiger 168 Kilometer langer steinerner Lindwurm durch die geteilte Hauptstadt zog. Gleich in der ersten Nacht machten sich Tausende über den armierten Beton her und schlugen Stücke als Erinnerung heraus. Das Hämmern und Klopfen der „Mauerspechte“ verschmolz zur Melodie dieser Tage: Dieses Monument totalitärer Macht, das mit Chris Gueffroy am 6. Februar 1989 sein letztes Todesopfer forderte, fällt unter der Kraft der vielen, die sich zu einem Volk vereinigen, bevor es Bürokraten beschließen mußten.
Deutschland schien bis zum 9. November 1989 nur noch ein Utopia zu sein
Deutschland – das schien bis zum 9. November 1989 nur noch ein Phantom, ein Utopia weniger Träumer. Auseinandergefallen in die westdeutsche Bundesrepublik und die mit Todesstreifen, Mauer und Stacheldraht eingehegte DDR.
„Das Zeitalter der Nationalstaaten ist vorbei“, belehrte mich mein damaliger Geschichtslehrer Mitte der achtziger Jahre, dem Geist der Zeit entsprechend, an einem Gymnasium im Südwesten der Bundesrepublik, als ich einmal nach realpolitischen Wegen zur Wiedervereinigung fragte. Es sei gut, daß anstelle eines riskanten „Rückfalls“ in die nationalstaatliche Geschichte die Einigung Europas träte. Es sei die wohl angemessene Antwort auf den fehlgeschlagenen „Sonderweg“ der Deutschen, der in zwei Katastrophen gemündet habe, so der Pädagoge.
Gefühl einer empörenden, widersinnigen Spaltung
Damals wurde der westeuropäische Stumpf übrigens bedenkenlos mit dem ganzen Kontinent gleichgesetzt. Mittel- und Osteuropa? Mitteldeutschland? Diese Landstriche verdämmerten in der Wahrnehmung westdeutscher Eliten hinter dem Eisernen Vorhang in einer Art vorgeschobenen asiatischen Steppe. Stellte nicht schon der römische Grenzwall des Limes eine Art kulturelle Scheidewand zwischen dem zivilisierten „Westen“ und den germanisch-slawischen Barbaren des Ostens dar?
Anfang der siebziger Jahre verbrachten wir als Kinder Ferien in der Lüneburger Heide. Bei einer Wanderung standen wir auf der Ruine einer gesprengten Elbbrücke. Mein Vater wies auf die andere Seite und sagte uns: „Da drüben geht Deutschland weiter.“ Er hatte während des Studiums in Berlin Kontakt zu Fluchthelfern, mit Kommilitonen versucht, Sprengstoff für einen Anschlag auf die Mauer zu besorgen – den Plan aber wieder verworfen. Diese Tat wäre sinnlos gewesen. Mir brannte sich jedoch das Gefühl über diese empörende, widersinnige Spaltung ein.
Ein deutsches Gefängnis für 28 Jahre
Es sollte vom Bau der Mauer am 13. August 1961 bis zum Einsturz am 9. November 1989 die Ewigkeit von 28 Jahren währen – etwa doppelt so lange wie eine „lebenslängliche“Freiheitsstrafe in Deutschland. Die Uhr mußte offensichtlich ablaufen. Der Bankrott des realexistierenden Sozialismus, das objektive Scheitern des kommunistischen Experimentes, dem hundert Millionen Menschen zum Opfer fielen, mußte erst an sein Ende kommen.
Nicht durch Hinterzimmergespräche, Geheimabkommen von Regierungen, sondern durch ein sich über das Jahr 1989 steigerndes vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielendes riesiges, gewaltfreies Plebiszit in Gestalt hunderttausendfacher Abstimmung mit den Füßen wurde der Untergang des Zwangssystems DDR besiegelt. Die nicht mehr zu steuernden Flüchtlingsströme über Ungarn und die deutsche Botschaft in Prag setzten demokratische Naturgewalten in Gang, denen das SED-Regime kein Zwangsmittel mehr entgegenzusetzen in der Lage war. Die Grenzöffnung am 9. November als Kommunikationspanne des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski bildet die kuriose Pointe eines der glücklichsten Momente der deutschen Historie.
Die deutsche Teilung blieb nicht das letzte Wort der Geschichte
Die deutsche Teilung blieb somit nicht das letzte Wort der Geschichte, wie viele tonangebende deutsche Historiker und Intellektuelle, sich mit dem Weltgeist im Bunde wähnend, hochmütig gepredigt hatten. Die Deutschen hatten sich als einiges Volk verstanden, und es gab im Gegensatz zu maßgeblichen Teilen der westdeutschen politischen Klasse unter normalen Bürgern keine ernsthafte Diskussion über die Frage der Wiedervereinigung.
Der Schriftsteller Walter Kempowski notiert in seinem Tagebuch „Alkor“ am Abend des 9. November: „Mitternacht am Radio: An den Grenzübergängen stauen sich Tausende von DDR-Leuten, die rüberwollen, die Grenzen sind geöffnet worden. Die Polizei weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. – Die Mauer könnte also fallen – ‘Wiedervereinigung’ scheint ein Reizwort zu sein, bei dem manche Leute in die Luft gehen. Warum, weiß der liebe Himmel. Jedes andere Land der Welt würde verrückt vor Freude werden.“ Doch die Deutschen liegen sich in den Armen. Die Bilder von wildfremden Menschen, die sich an den Grenzübergängen weinend um den Hals fallen, signalisierten: Wir sind eine Familie und wir gehören zusammen.
Die Tatsache, daß die Einheit kommen mußte, war unausweichlich
Der armselige Versuch des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, mit Ressentiments und der Warnung vor den „Kosten der Einheit“ Wahlen zu gewinnen, wurde an der Wahlurne später mit Verachtung gestraft. Ebenso die Versuche einer vorläufig katastrophal gescheiterten radikalen Linken, die unter dem Slogan „Nie wieder Deutschland!“ am 12. Mai 1990 noch einmal bei einer Großdemonstration den lächerlichen Versuch unternahm, die Öffentlichkeit gegen die Einheit zu mobilisieren.
Helmut Kohl als Bundeskanzler bewies historisches Gespür, als er – ohne daß es Pläne in den Schubladen schlecht vorbereiteter Ministerien gab – die Weichen auf die Wiedervereinigung stellte und international Vertrauen dafür gewann. Es wurden im Prozeß der Vereinigung Fehler gemacht (wovon die Aufgabe der D-Mark für das Euro-Experiment einer der schwerwiegendsten war); die Tatsache, daß die Einheit kommen mußte, war unausweichlich. Daß sie gelang, ohne daß Blut floß, ist ein Wunder.
Der Schuh, den einst Bismarck getragen hat, ist deutschen Politikern noch immer zu groß
Seit dem Fall der Mauer hat sich die tiefe Wunde, die 40 Jahre Teilung gerissen hatte, schon weitgehend geschlossen. Durch den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, die Restauration historischer Innenstädte – beispielhaft die Rettung der mittelalterlichen Stadt Quedlinburg – wurden Symbole geschaffen für eine seelische Heilung unserer Nation, die noch nicht abgeschlossen ist.
Deutschland wurde in einem Moment in die Geschichte zurückgerufen, als es sich mit seiner Rolle im Windschatten der Supermächte abzufinden begann. Heute ist es zurückgeworfen auf seine geographische Mittellage und muß als wirtschaftliches Schwergewicht und – noch – einwohnerstärkste Nation der Europäischen Union Moderator in außen- und sicherheitspolitischen Konflikten sein. Der Schuh, den einst Bismarck getragen hat, ist deutschen Politikern noch immer zu groß.
Es ist offen, ob wir Deutschen unsere wiedergewonnene Einheit und Freiheit bewahren und uns dauerhaft regenerieren oder der bequemen Versuchung erliegen, neugewonnene Verantwortung und Souveränität weitgehend in Brüssel abzuliefern und damit die historische Chance zu verschenken, die uns der 9. November als Nation bot. Der anhaltende demographische Abstieg, eine fehlgeleitete Einwanderung und konzeptionslose Integration sowie neue sicherheitspolitische Gefährdungen stellen unsere Nation vor große Herausforderungen. Wir sind ihnen gewachsen, wenn es gelingt, den Prozeß der Aussöhnung mit uns selbst geistig fortzusetzen.
> JF-Beilage zum 25. Jahrestag des Mauerfalls als PDF-Download (4,7 MB)
JF 46/14