Nach Jahrzehnten der Vorbereitung und Jahren der Arbeit legt der Historiker Karlheinz Weißmann nun sein „Lexikon politischer Symbole“ vor. Das umfangreiche Handbuch füllt eine Lücke, da bisher noch kein vergleichbares
Nachschlagewerk existiert hat.
Herr Dr. Weißmann, Ihr neues „Lexikon politischer Symbole“ ist ein Nachschlagewerk von mehr als sechshundert Seiten. Welchen Aufwand bedeutet es, wenn man so ein Projekt im Alleingang vorantreibt?
Karlheinz Weißmann: Der ist immens – und ich hätte mich selbstverständlich über einen Stab von Mitarbeitern und ein großzügiges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefreut. Aber es sollte wohl nicht sein. Doch Spaß beiseite: Die Vorbereitung nahm Jahrzehnte, die Durchführung wenigstens ein paar Jahre in Anspruch.
Was meinen Sie mit Vorbereitung?
Weißmann: In meinem Fall hieß das vor allem Material finden, sichten und sammeln. Denn es gibt ja kein Archiv oder ein Museum der politischen Symbolik. Sie sind gezwungen, sich eine Spezialbibliothek aufzubauen – meine umfaßt mehr als eintausend Bände –, und Sie müssen stets die Augen offenhalten, ob es hier oder da etwas von Interesse gibt. Das gilt für die Lektüre, ganz gleich, ob Buch, Zeitschrift, Zeitung oder Wikipedia-Eintrag, für den Spaziergang, bei dem Sie einen Aufkleber entdecken, oder die Reise, die Sie unvermutet auf ein interessantes Objekt stoßen läßt, für den Streifzug durch das Antiquariat oder über den Flohmarkt – nicht zu vergessen den globalen Flohmarkt, der ihnen heutzutage qua Ebay oder vergleichbarer Portale zur Verfügung steht.
Wenn Sie einen Hinweis nicht exzerpieren und einen Beleg nicht fotografieren oder scannen können, müssen Sie klären, ob Sie die Mittel haben, das Stück zu erwerben. Als nächstes geht es um die Frage, wie sie es aufbewahren wollen. Da sind dem Privatmann natürlich Grenzen gesetzt. Für einige hundert Abzeichen und Embleme läßt sich vielleicht noch Platz finden, aber schon wenn es um Plakate, Fahnen oder sperrigere Gegenstände geht, zeigen sich erhebliche Probleme.
Weißmann: „Ohne eine gewisse Besessenheit geht es nicht“
Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das hört sich schon nach einem gewissen Maß von Besessenheit an.
Weißmann: Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ohne ein gewisses Maß von Besessenheit ist wohl noch nie etwas Bedeutendes zustande gebracht worden. Und ich glaube, daß es keinen anderen Weg als diesen gibt, das Thema anzugehen. Es hat ja Gründe, wenn bis dato nichts ähnliches existiert; nicht in deutscher Sprache, aber auch in keiner anderen, soweit ich das Feld übersehe. Ein einziger Versuch, der unternommen wurde, ist fünfzig Jahre her und litt nicht nur unter technischen, sondern auch unter methodischen Schwächen. Seither hat es praktisch keinen weiteren Anlauf gegeben.
Was möglicherweise dafür spricht, daß das Thema nicht die Relevanz hat, die Sie annehmen.
Weißmann: Das glaube ich kaum. Grundsätzlich wird die Bedeutung politischer Symbole in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht nur anerkannt, sondern hervorgehoben. Aber es gibt nur eine Menge Spezialstudien und dann irgendwelche Veröffentlichungen, die an der vorschnellen Neigung zu generalisierenden Aussagen scheitern. Das gilt vor allem für Soziologie und Politologie. Entscheidend für das Verständnis von Symbolen ist aber die Klärung ihrer Genese, ihrer historischen Dimension. Das setzt eine Menge Kärrnerarbeit voraus, die offenbar ungern geleistet wird. Wenn Sie sich die ganzen Projekte der letzten Jahrzehnte zur „Politischen Ikonographie“, „Politischen Ikonologie“, „Symbolpolitik“, zur „Inszenierung der Macht“ oder zum „Kollektiven Bildgedächtnis“ etc. ansehen, werden Sie feststellen, wie gering der Ertrag war.
Und das hoffen Sie mit Ihrem Lexikon zu ändern?
Weißmann: Ja, insofern als es – geordnet nach den Eigennamen wie Dreipfeil, Kruckenkreuz, Bindenschild, oder der äußeren Erscheinung wie dem Hahn, dem Elefanten, der Farbe Blau – einen Überblick zum Ursprung, zur Entwicklung und zur Verwendung von mehr als zweihundert politischen Symbolen bietet. Die Einträge sind notwendig verschieden lang, da es Fälle gibt, in denen die Dinge komplizierter sind als in anderen, und selbstverständlich gibt es ein Bedeutungsgefälle.
Zum Thema „Rot“ muß viel mehr gesagt werden als zum Thema „Grau“, zu „Hammer und Sichel“ viel mehr als zu den „Gleichstrichen“. Da kann der Leser vielleicht auch einmal den Überblick verlieren. Aber die Tatsache, daß wir für eine so reiche Bebilderung – es gibt mehr als eintausendsechshundert Illustrationen – gesorgt haben, dürfte das Verständnis erleichtern. Zuletzt gibt es auch noch Literaturhinweise, wenn man sich weitergehend informieren möchte.
„Symbolpolitische Kontroversen bestimmen Alltag“
Das ist die Dimension der Wissenschaft. Aber glauben Sie, daß auch Otto Normalverbraucher den Eindruck hat, daß politische Symbolik von Belang ist?
Weißmann: Was der Normalbürger an Eindrücken hat, ist schwer zu sagen. Ich glaube allerdings, daß die meisten Menschen Fragen der politischen Symbolik interessant finden, wenn man sie angemessen erläutert. Davon abgesehen können Sie doch an der Intensität, mit der symbolpolitische Auseinandersetzungen unseren Alltag bestimmen, ablesen, daß von Bedeutungslosigkeit keine Rede sein kann.
Woran denken Sie da konkret?
Weißmann: Nehmen sie nur die Weigerung der italienischen Politikerin Giorgia Meloni, die dreifarbige Flamme – das Traditionssymbol der Neofaschisten – aus dem Emblem ihrer Partei Fratelli d’Italia zu tilgen, die Hysterie wegen angeblich in Hakenkreuz-Form um einen „Stolperstein“ gelegte Klinker vor zwei Wochen, zeitgleich der Vorstoß von Jan Böhmermann gegen das Fraktur-A an deutschen Apotheken, die Debatte über ein Verbot der alten Reichsfarben im Zuge der Anti-Corona-Proteste bei uns und der alten Südstaatenflagge als Folge von „Black Lives Matter“ in den USA.
Als der Regenbogen auf dem Reichstag gehißt wurde, hat das doch eine gewisse Verstörung ausgelöst, und hilflose Wut zeigten unsere tonangebenden Kreise, als bei den Bauerndemonstrationen plötzlich die alte Landvolkfahne mit Pflug und Schwert auftauchte. Symbolkämpfe spiegeln ideologische Kämpfe. Schon deshalb darf man ihre Bedeutung nicht unterschätzen.
Zwar konnte man zu Beginn des neuen Jahrhunderts den Eindruck gewinnen, als ob die Intensität dieser Konflikte nachließe. Aber der hat sich nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil. Wenn die Kurdische Arbeiterpartei trotz des Verbots ihrer Embleme mit ihnen durch unsere Straßen zieht, macht das Kräfteverhältnisse deutlich. Wenn bei uns am Rande einer Demonstration eine Flagge Israels verbrannt wird, ahnen wir, daß es sich nicht um irgendeine beliebige Unmutsäußerung handelt, sondern um eine handfeste Drohung.
Angenommen, ich folge Ihnen bei dieser Interpretation. Wie erklären Sie sich die bleibende Bedeutung politischer Symbole?
Weißmann: Symbolschöpfung und Symbolnutzung sind anthropologische Konstanten. Der Mensch hat nun einmal keine Instinkte, die ihm eine selbstverständliche Orientierung in der Welt erlauben. Die ist für ihn seit jeher unüberschaubar, und er muß sie deshalb mit Hilfe von Symbolen ordnen. Symbole sind uns insofern natürlich, als sie zu unserem Wesen gehören. Aber selbstverständlich sind alle Symbole gemacht und in der Regel – es gibt ein paar Universalien – bloß innerhalb der Kultur zu verstehen, die sie hervorgebracht hat.
Man muß wissen, welchen „Sitz im Leben“ ein Symbol hat, um es zu begreifen. Dazu gehört auch die Beantwortung der Frage, wo ein Symbol in der jeweiligen Hierarchie der Symbole steht. Eine solche Hierarchie legt fest, welche Symbole heilig, welche wichtig, welche weniger wichtig, welche mehr oder weniger belanglos sind. Das gilt grundsätzlich für alle Gesellschaftsformen, auch für unsere.
„Urinieren auf die Fahne als künstlerischer Akt“
Aber hat sich die Vorstellung von der „Heiligkeit“ eines Symbols, etwa eines politischen Symbols, bei uns nicht mehr oder weniger erledigt?
Weißmann: Bis zu einem gewissen Grad gebe ich Ihnen da recht. Was einmal hinter der Liedzeile „Die Fahne ist mehr als der Tod“ stand, ist für die meisten Deutschen, Europäer oder Nordamerikaner kaum noch nachzuvollziehen.
Aber wir sollten auch an die neue Sensibilität unserer Politischen Klasse denken, die überall Staatsverleumdung am Werk sieht und das auch und gerade im Fall der Verächtlichmachung der Hoheitszeichen zur Geltung bringt. Was schon deshalb bemerkenswert ist, weil Liberale den Nationalsymbolen eigentlich mit Gleichgültigkeit gegenüberstehen, während die Linken sie in der Regel mit Hohn und Spott bedenken; eine einst prominente Grüne wollte das Urinieren auf die Bundesflagge als künstlerischen Akt gewertet wissen, und der Parteinachwuchs kommt von seinem Antipatriotismus ja bis heute nicht los und polemisiert gegen jede noch so harmlose Form der Flaggenbegeisterung.
Ich habe den Eindruck, wir kommen vom Thema ab.
Weißmann: Ja, zurück zur Frage der „Entheiligung“. Das ist ohne Zweifel eine Konsequenz der Säkularisierung, damit aber auch ein in erster Linie westliches Phänomen. Außerhalb unseres Kulturkreises stellen sich die Dinge oft ganz anders dar.
Nehmen Sie nur den Rückgriff Putins auf das „Siegesbanner“ der Sowjetarmee von 1945 und den damit verbundenen Kult, die schwarze Fahne des IS als Ausdruck der Überzeugung, daß man im endzeitlichen Kampf stehe, um den weltweiten Sieg des Islam zu erfechten, den empfindlichen Stolz der Chinesen darauf, daß sie „Söhne“ und „Töchter“ des Drachen seien, oder die Schaffung eigener „indigener“ Symbole wie der Wiphala in Lateinamerika als Zeichen der Emanzipation von Jahrhunderten weißer Vorherrschaft. Da wirkt sich immer eine Art Charisma der Symbole aus, das mit rationalen Erwägungen über die kommunikationstheoretische Funktion mit Sender-Botschaft- Empfänger nicht zu fassen ist.
„Es geht um die eine Frage: Wer sind wir?“
Sie glauben also, daß Ihre Arbeit nicht nur eine historische Dimension hat, sondern auch für die Gegenwart Aufschlüsse bietet?
Weißmann: Unbedingt. Im Grunde sind alle Identitätskämpfe, die gegenwärtig die Gesellschaft erschüttern, Symbolkämpfe. Hautfarbe und Körpermerkmale fungieren dabei als primäre Symbole wie seit Urzeiten. Was aber entscheidender ist: Die Identitätskämpfe sind kein vorübergehendes Phänomen. Das Gerede über die „Spaltung“, die es zu überwinden gelte, lenkt ja nur davon ab, daß eine Identität, vor allem eine kollektive, nie eine stabile, selbstverständliche Größe ist. Es geht immer um die Frage „Wer sind wir?“
Und ihre eindrucksvollste Antwort findet sie – für den Menschen als optisches Tier – in einem sichtbaren Symbol. Natürlich sind wir auch über andere Signale in Bewegung zu setzen, den Kampfgesang, die Nationalhymne etwa, aber zuletzt geben Bilder den Ausschlag. Sie sagen nicht nur mehr als tausend Worte, sie können, wenn es sich um starke Symbole handelt, eine außerordentliche Suggestivkraft entfalten, mit der kaum etwas zu vergleichen ist. Sie sorgen für die Integration der vielen in eine Einheit, die ja zuerst eine vorgestellte ist.
Nehmen sie nur die Linksextremisten, die an jedem besetzten Haus und bei jeder Demonstration ihre Fahne zeigen, oder das Sternenbanner, vor dem die amerikanischen Schüler der Republik und ihren Werten die Treue schwören, und das in jedem US-Film, der im Polizei-, Militär- oder Geheimdienstmilieu spielt, irgendwann auftaucht, eingerahmt, manchmal zerrissen oder von Kugeln durchlöchert oder auf das Dreieck gefaltet, wie es nach der Beerdigung eines Gefallenen den Hinterbliebenen übergeben wird. Dahinter steht im ersten Fall eine Faszination, die im Grunde nicht zu Leuten paßt, die eigentlich hinter der Parole „No Flag – No Nation“ stehen, und im zweiten Fall erkennt man die selbst in einer schon sehr stark fragmentierten Gesellschaft erhaltene Überzeugung, daß die Fahne mehr ist als irgendein Stück Tuch.
Rechnen Sie damit, daß Ihr Lexikon breitere Anerkennung in ihrer eigenen, der Historikerzunft finden wird?
Weißmann: Nein.
Warum nicht?
Weißmann: Ich habe mich daran gewöhnt, daß man meine Arbeiten bestenfalls nutzt, ohne meinen Namen zu nennen, oder meinen Namen nennt, um ihn rituell zu verfluchen. Daran wird auch das Lexikon nichts ändern. Im Grunde reicht es mir, wenn eine Prophezeiung Armin Mohlers in Erfüllung geht. Der hat mir vor dreißig Jahren mal gesagt: „Ich bin der KR-Mohler …“, KR für Konservative Revolution, „… und Sie werden der Symbol-Weißmann“.
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Dr. Karlheinz Weißmann. Der Historiker und Göttinger Gymnasiallehrer ist Autor des soeben erschienen „Lexikon der politischen Symbole“. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter mehrere zum Thema politische Symbole, etwa „Deutsche Zeichen. Symbole des Reiches, Symbole der Nation“. Außerdem bietet er auf der Netzseite www.feuerstahl.org Sachbeiträge zu verschiedenen Aspekten der Symbolkunde.
Seinen Ruf begründete Weißmann, geboren 1959 im niedersächsischen Northeim, mit dem Ullstein-Titel „Rückruf in die Geschichte“ und dem Propyläen-Band „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933–1945“. Zuletzt erschienen aus seiner Feder: „Zwischen Reich und Republik. Geschichte der rechten Parteien und Bewegungen in der Bundesrepublik“, „Kulturbruch ‘68. Die linke Revolte und ihre Folgen“, „1914. Die Erfindung des häßlichen Deutschen“, „1919. Von der Revolution zum Friedensdiktat“ sowie die beiden Jugendsachbücher „Deutsche Geschichte für junge Leser“, das auch als Hörbuch erhältlich ist, und „Prophet der Deutschen: Martin Luther für junge Leser“, ebenfalls als Hörbuch verfügbar. Seit 1988 schreibt er auch für die JUNGE FREIHEIT.