Der russische Angriff auf die Ukraine hat viele im Westen überrascht. Dabei habe er sich lange angekündigt. Der Militärexperte Martin van Creveld erläutert im JF-Interview, was der Krieg für die Weltordnung bedeutet und was der Westen unterlassen sollte, um keinen Atomkrieg zu riskieren.
Waren Sie vom nächtlichen Überfall Rußlands auf die Ukraine überrascht?
Martin van Creveld: Um ehrlich zu sein: ja. Ich dachte, Putin würde sich für die „kleine Lösung“ entscheiden, was bedeutet hätte, sich auf den Donbas zu beschränken. Stattdessen hat er sich dazu entschlossen, die gesamte Ukraine aus allen Richtungen gleichzeitig anzugreifen; von Norden, Osten und Süden.
Welche Strategie verfolgt Putin? Wird er die ganze Ukraine dauerhaft besetzen, oder nur den Ostteil? Oder geht es ihm lediglich um ein kurzfristiges massives Ausschalten der ukrainischen militärischen Potenz?
Van Creveld: Wir haben seit Wochen gehört, was er gesagt hat, aber wenige wollten ihm glauben. Putin zielt auf nichts weniger als die Beseitigung der Ukraine als unabhängiger Staat. Er sieht es wie Stalin, demzufolge Rußland lange rückständig war und deshalb in der Vergangenheit häufig besiegt wurde: von den Wikingern, den Mongolen, den Türken, den Polen, den Schweden, den Franzosen, von den Deutschen gleich zweimal in einem Jahrhundert.
Jedesmal fiel Rußland fast auseinander. So sehr, daß es schien, der Name „Rus“ könnte verschwinden. Zwar hat es sich jedesmal erholt, aber zu welchem Preis!
Die jetzige Krise hat ihren Ursprung bei den Amerikanern in den Jahren 1989-91. Die Methoden waren zwar unterschiedlich, aber das Ziel war das gleiche. Angesichts der Situation sieht Putin es als seine historische Mission an, den Ball zurückzuspielen – um einen Begriff zu verwenden, der in Washington während des Kalten Krieges erfunden wurde und immer noch verwendet wird.
„Die ökonomischen Kosten werden schrecklich sein“
Sehen Sie hinter Putins Offensive das Konzept einer Großrevision der Ergebnisse von 1989-91? Will Rußland über die Ukraine hinaus die Heimholung von Weißrußland, Kasachstan und anderer Ex-Sowjetrepubliken erzwingen?
Van Creveld: Er würde sicherlich gern zumindest ein paar der Eroberungen schaffen. Unabhängig davon, ob er es versucht, hängt er davon ab, wie erfolgreich er in der Ukraine ist.
Wie sehr verändert Putins Angriff die Weltordnung?
Van Creveld: Rußland ohne die Ukraine ist eine Sache. Rußland mit Ukraine etwas ganz anderes. Dabei geht es zum einen darum, die ukrainischen Ressourcen Rußland einzuverleiben. Und zum anderen darum, den uralten russischen Vorstoß nach Konstantinopel (heute Istanbul – Anm.) und in die Meerenge wieder aufzunehmen. Das weiß auch der türkische Regierungschef Erdogan. Deshalb hat er sich neben anderen Maßnahmen auch auf die Seite Israels gestellt.
Deutschland und viele EU-Staaten sind abhängig von russischen Erdgas- und Erdöllieferungen. Diese lassen sich vielleicht teilweise ersetzen. Aber Rußland kann nach der Eroberung der Ukraine auch Ersatzlieferungen aus Aserbaidschan oder Mittelasien verhindern. Venezuela und Iran sind aus politischen Gründen tabu. Die Preise werden extrem steigen und die Wirtschaft lähmen (Ölkrise 1973/79) – kann der Westen das durchhalten?
Van Creveld: Die ökonomischen Kosten werden schrecklich sein. Hoffen wir also, daß der Westen nicht noch mehr zusammenbricht als 1973-74.
„Das könnte einen Nuklear Krieg auslösen“
Wäre es nicht eine passende Gelegenheit für die China, im „Schatten“ des Ukraine-Kriegs die Taiwan-Frage im Sinne Pekings zu „klären“? Oder wartet Peking ab, bis sich der Westen über die Ukraine entzweit hat?
Van Creveld: Beides ist möglich.
Wie sollte die Nato, wie sollte Deutschland auf die russische Offensive reagieren?
Van Creveld: Der Westen kann vieles tun, was auch schon in der Presse diskutiert wurde; von Sanktionen bis militärischer Hilfe. Was der Westen jedoch nicht tun kann, ist, gegen Rußland in den Krieg zu ziehen. Das könnte einen nuklearen Krieg auslösen.
1994 hat die Ukraine ihr beträchtliches Arsenal an Atomwaffen an Rußland abgetreten – für die offenkundig wertlose Garantie ihrer territorialen Unversehrtheit. Ist das eine Lehre für andere Staaten, niemals auf die eigene nukleare Bewaffnung zu verzichten oder eine solche unbedingt anzustreben?
Van Creveld: Ich denke, die Ukrainer haben ihr Arsenal damals abgegeben, nicht weil sie dem Kreml geglaubt haben, sondern weil es für sie nutzlos gewesen wäre. Sie hatten auch nicht die Möglichkeiten, die vorhandenen Waffen zu aktivieren. Eine zweite eigenen Atomstreitmacht aus dem Nichts aufzubauen wäre schwer – wenn nicht unmöglich gewesen.
In einer umfassenderen Sichtweise habe ich bereits gesagt: „Eine Atombombe zur richtigen Zeit, schafft Ruhe und Behaglichkeit.“ Natürlich nur, wenn sie nicht eingesetzt wird.
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Prof. Dr. Martin van Creveld. Der renommierte Militärhistoriker beriet die Streitkräfte verschiedener Nationen und lehrte an den Universitäten Jerusalem und Tel Aviv.