Der Krieg in der Ukraine geht in die dritte Woche. Russische Truppen versuchen, die Großstädte des Landes zu belagern. Oder werden sie zum Angriff beispielsweise auf die Hauptstadt Kiew übergehen? Die JF sprach mit dem Militärhistoriker Martin van Creveld.
Professor van Creveld, der Kampf um Kiew steht bevor, oder?
Martin van Creveld: Ich gehe davon aus, daß die Russen Kiew einnehmen werden, auch wenn es einige Zeit dauern wird. Allerdings ist die Ukraine ein großes Land – etwa doppelt so groß wie Deutschland – mit vielen weit verstreuten Städten und Dörfern. Es ist keineswegs sicher, daß Putin die Kräfte aufbringen kann, sie alle zu besetzen. Und selbst wenn er es schafft, wird der Widerstand in Form von Guerilla und Terrorismus wahrscheinlich nicht aufhören.
Könnte Putin die Stadt nicht einfach in Schutt und Asche legen lassen?
Van Creveld: Sicher könnte er das. Aber Kiew ist eine große Stadt, es wird also seine Zeit dauern. Außerdem bietet eine zerstörte Stadt dem Verteidiger eine noch bessere Ausgangsposition als eine intakte Stadt. Und selbst wenn es gelingt, wird das den Widerstand nur befeuern.
Es gibt weitere große ukrainische Städte. Nur Cherson und Melitopol im Süden wurden bisher übernommen. Charkiw, Sumy, Konotop und Tscherniw leisten weiter Widerstand. Warum?
Van Creveld: Wahrscheinlich, weil es nicht genug russische Truppen gibt, um diese Städte alle gleichzeitig zu übernehmen.
Was glauben Sie, wie hoch werden die Kosten des Angriffs auf die Städte – die Verluste an Menschenleben?
Van Creveld: Auf jeden Fall in die Tausende. Wenn die Ukrainer ihre „Versprechen“ halten und sich „bis zum Ende“ verteidigen, wahrscheinlich sogar Zehntausende.
„Es handelt sich um einen großen Krieg“
Es wurde bereits einiges über die Moral der russischen Truppen gesagt und geschrieben. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Van Creveld: Darüber habe ich leider keine Informationen. Ich weiß nur, daß im Krieg die Wahrheit oft das erste Opfer ist und daß die Informationen, die wir über diese und andere Fragen erhalten, nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen.
Von russischer Seite wurde bekanntgegeben, Söldner, etwa aus Syrien, in die Schlacht um Kiew zu werfen …
Van Creveld: Das mag sein. Aber es handelt sich um einen großen Krieg, und ich bezweifle, daß ein paar tausend syrische „Freiwillige“ einen großen Unterschied machen werden. Außerdem hat es auch Gerüchte über Tschetschenen gegeben, die auf ukrainischer Seite in den Krieg ziehen.
Haben die Syrer nicht frische Erfahrungen im Städtekampf? Nützt das nichts?
Van Creveld: Doch, das tun sie. Vielleicht wird ihre Anwesenheit in diesem Sinne schon einen Unterschied machen.
„Denken Sie an den Zweiten Golfkrieg“
In Ihrem Werk „Die Zukunft des Krieges“ schreiben Sie, es werde keine konventionellen Kriege mehr geben. Widerlegt der Ukraine-Krieg ihre These nicht?
Van Creveld: Denken Sie an den Zweiten Golfkrieg. Drei Wochen eines mehr oder weniger konventionellen Krieges, um Bagdad zu erreichen, zwanzig Jahre Guerilla und Terrorismus, um wieder herauszukommen. Dieser Krieg wird genauso ablaufen – eigentlich läuft er schon genau so, denn auf ukrainischer Seite stehen vor allem unkoordinierte lokale Milizen.
Rußlands Feldzug begann bereits vor drei Wochen. Was glauben Sie, wie lange wird der Krieg noch dauern?
Van Creveld: Wenn keine politische Lösung gefunden und vereinbart wird – Monate. Vielleicht mehr.
Wie könnte ein für beide Seiten akzeptabler Ausweg aussehen?
Van Creveld: Vor Jahren habe ich geschrieben, daß die Aufnahme der osteuropäischen Länder in die Nato ein großer Fehler sein könnte und daß es besser wäre, eine neutrale Zone zwischen diesen Ländern und Rußland zu schaffen. Gegenwärtig könnte ein solches Vorgehen mit der Ukraine beide Seiten zufriedenstellen.
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Prof. Dr. Martin van Creveld, israelischer Militärhistoriker, hat die Streitkräfte verschiedener Nationen beraten und lehrte an den Universitäten in Jerusalem und Tel Aviv.
JF 12/22