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Der neue Kalte Krieg kommt

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Herr Professor Scholl-Latour, Rußland reagiert auf die Stationierung von US-Abfangraketen in Polen und der Tschechei mit der Aufstellung von Mittelstreckenwaffen in Königsberg. Kehrt jetzt der Kalte Krieg zurück? Scholl-Latour: Tatsächlich entspricht die Reaktion der Russen in mancher Hinsicht dem Muster des Kalten Krieges. Sie begegnen einer amerikanischen Provokation, wie sie es sehen. Genauso, wie die Nato Anfang der achtziger Jahre als Antwort auf die Stationierung sowjetischer SS-20 die amerikanischen Pershing-2-Raketen aufgestellt hat. Ich war zu jener Zeit Chefredakteur des Stern und stand dort mit meiner Stellungnahme für die Nachrüstung völlig alleine. Deshalb kann ich heute auch die Russen verstehen. Aber Sie fragen: „Kehrt jetzt der Kalte Krieg zurück?“ Nein, denn der neue Kalte Krieg ist nicht der alte. Ich habe den Titel meines Buches mit Bedacht gewählt: „Der Weg in den neuen Kalten Krieg“ Was unterscheidet den neuen vom alten? Scholl-Latour: Der alte Kalte Krieg war in mancher Hinsicht berechenbarer als das, was wir heute erleben. Damals bestand ein ständiger Kontakt zwischen Washington und Moskau. Wurde es wirklich ernst, griff man zum roten Telefon und suchte nach einer Bereinigung. Man vergißt zu leicht, daß Eisenhower und Chruschtschow gemeinsam der unsinnigen britisch-französischen Landung in Suez 1956 ultimativ entgegengetreten sind. Darüber hinaus haben die Russen, bevor sie 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, die USA vorher informiert. Ihr Buch ist im Grunde eine Artikelsammlung und damit eher deskriptiv. Dadurch bleibt der sonst gewohnte analytische Zugriff etwas auf der Strecke. Stellt das Ihre Leser zufrieden? Scholl-Latour: Man hat mich 2003 ob meiner Warnungen, daß der Irak-Krieg in einem Desaster enden würde, einmal als den „greisen König der Unken“ tituliert. Was ich in dem neuen Buch darstelle, ist die allmähliche Entwicklung von 2001 bis heute. Ich habe an den Artikeln, die ich dafür gesammelt habe — der erste stammt vom 22. Oktober 2001, also aus den Tagen der Offensive in Afghanistan, der letzte vom 5. November 2008, also dem Tag nach der Wahl Obamas —, kein Wort geändert. Daraus sollte man ersehen, daß die Entwicklung in Richtung auf die jetzige Situation durchaus vorausschaubar war. Als „erste Schlacht“ des alten Kalten Krieges gilt die Berlin-Blockade 1948. Bezüglich des neuen setzen Sie beim US-Angriff auf Afghanistan an, obwohl doch in diesem Konflikt den USA gar keine Großmacht gegenübersteht. Scholl-Latour: Beim Kalten Krieg der Vergangenheit handelt es sich um eine bipolare Konfrontation. Die USA sind jedoch heute nicht mehr die universale Hegemonialmacht. Dessen sind sie sich übrigens selbst bewußt, wie eine interne Studie der US-Geheimdienste enthüllt. Der wichtigste Unterschied zum alten Kalten Krieg ist der multipolare Charakter der neuen Konfrontation. Neben die traditionellen Rivalen USA und Sowjetunion sind neue getreten: China, Indien und die islamische Welt. Bezeichnend für die Verschärfung der Auseinandersetzung mit dem Islam ist der Verlauf des Afghanistan-Kriegs. Ist es hilfreich, die Rivalitäten der Großmächte mit dem Islamismus-Konflikt zu verbinden? Samuel Huntington hat für letzteren extra den Begriff „Kampf der Kulturen“ geprägt — ist diese Abgrenzung zum klassischen Mächtekonflikt, wie ihn die Formel „Kalter Krieg“ beschreibt, nicht sinnvoll? Scholl-Latour: Das 21. Jahrhundert ist durch die Parallelität diverser Konflikte geprägt. Das sehen wir aktuell an den jüngsten Vorfällen in Indien, wo islamistische Kräfte mit dem Massaker von Bombay den indischen Staat herausgefordert haben. Der internationale Terrorismus — das, was man in Washington den Kampf gegen den „Islamofaschismus“ nennt, ich benutze lieber den Namen „islamische Revolution“ — ist eine Belastung, die alle „Global Players“ berührt. Dabei sollte eines berücksichtigt werden: Die eigentlichen Akteure sind hier nicht die Staaten, sondern diffuse Aufstandsbewegungen, die von der Bevölkerung unterstützt werden und sich zunehmend antiwestlich orientieren. Im Prinzip sind diese Anschläge gegen die eigenen Regierungen gerichtet und gegen den Westen vor allem in dem Maße, wie er diese Regime unterstützt. War der alte Kalte Krieg noch eine recht übersichtliche Sache, so zeichnet sich der neue durch seine extreme Unübersichtlichkeit aus. Wird die klassische Konfrontation — USA gegen Rußland — in diesem neuen Kalten Krieg also überhaupt noch im Mittelpunkt stehen? Scholl-Latour: Rußland ist nicht mehr eine beherrschende Weltmacht wie einst die Sowjetunion. Aber es ist weiterhin eine Großmacht. Vor allem, weil es über ein Atompotential verfügt, dem nur das amerikanische gleichkommt. Die Russen entsandten jüngst einen Flottenverband um ihren Atomkreuzer „Peter der Große“, Flaggschiff der Nordmeerflotte und das größte Schlachtschiff der Welt, nach Venezuela. Droht dort in Zukunft vielleicht eine neue „Kuba-Krise“? Scholl-Latour: So weit wird es wohl kaum kommen, aber immerhin können die Russen Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez mit Waffen ausrüsten, die zwar nicht ganz so perfektioniert sind wie die amerikanischen, aber Venezuela ein zusätzliches Gewicht verleihen. Im übrigen hatte Washington zuvor seine Schiffe ins Schwarze Meer an die Küste Georgiens entsandt. Die Russen haben hier also im gleichen Sinne reagiert. Das wird sich in Zukunft stets wiederholen — bis die USA anerkennen, daß Rußland als gleichwertiger Partner behandelt werden will. Der ehemalige US-General Wesley Clark sagte unlängst im Interview mit dieser Zeitung (JF 36/08), solche Gesten russischerseits seien nichts weiter als „Getöse und Wutgeheul“, die nur die russische Machtlosigkeit zeigten. Scholl-Latour: Na ja, ich erinnere mich an den Balkan-Konflikt, als General Clark 1999 meinte, die Russen aus dem Kosovo herauswerfen zu müssen. Der britische General Mike Jackson ist ihm mit den Worten entgegengetreten: „Ich werde nicht erlauben, daß hier ein Dritter Weltkrieg entsteht!“ Der große Fehler der Bush-Regierung war es wohl, Rußland systematisch in die Enge zu treiben und damit eine Feindseligkeit gegen Washington zu schüren, die ursprünglich nicht vorhanden war. Sie schreiben auch, der neue Kalte Krieg werde von einem relativen Abstieg Rußlands bei gleichzeitigem Aufstieg Chinas geprägt sein. Scholl-Latour: Amerikas wirklicher Gegenspieler der Zukunft wird China sein, das als strategische Macht ab 2025 annähernd auf Augenhöhe mit den USA stehen wird. Die Russen pflegen zwar ein gutes Verhältnis zu China, fühlen sich aber durch den gewaltigen demographischen Druck des Reichs der Mitte in Ostsibirien, vor allem in der Pazifikprovinz Primorje, bedroht. Es findet dort keine massive chinesische Einwanderung statt, wie ursprünglich befürchtet wurde, aber Rußland ist sich bewußt, daß seine fernöstlichen Territorien weitgehend entvölkert sind. Dagegen findet jenseits des Amur in der Mandschurei eine Zusammenballung von 130 Millionen Chinesen statt, die sich überaus dynamisch entwickeln. Die Russen wissen natürlich, daß ihre Bevölkerungsschwäche — das Land hat mit 142 Millionen Menschen gerade mal so viele Einwohner wie Deutschland und Frankreich zusammen — ihren Status als Großmacht bedroht. Die Zukunft ist dort von weiterem Bevölkerungsschwund gezeichnet: Die russische Bevölkerung geht jedes Jahr um 800.000 Menschen zurück. Die Zeiten, als von der „russischen Dampfwalze“ die Rede war — so hieß das Schlagwort in meiner Jugend —, gehören der Vergangenheit an. Die Entwicklung wird dadurch dramatisiert, das innerhalb der Russischen Föderation rund 25 Millionen Muslime leben, die meist den Turkvölkern angehören und sich im Gegensatz zu den Slawen stark vermehren. Aber auch Amerika weist Symptome der Schwäche auf. Denken wir nur an die Tragikkomödie, die sich derzeit vor der Küste von Somalia abspielt, wo die übermächtige US-Marine nicht rechtzeitig zur Stelle war, um den dortigen Piraten entgegenzutreten. Kennzeichen des alten Kalten Krieges waren die Stellvertreterkriege. Wird es zu diesen auch im neuen Kalten Krieg kommen? Scholl-Latour: Die gibt es doch schon — die werden nur nicht mehr so genannt. Denken Sie etwa an den Kaukasus-Konflikt, der im August zwischen Georgien und Rußland um Südossetien geführt wurde. Die Amerikaner hatten 140 Militärberater in Georgien, die das Pentagon rechtzeitig über die Offensiv-Absichten des georgischen Präsidenten Saakaschwili hätten informieren können. Ein Anruf George Bushs in Tiflis hätte genügt, um die Aktion zu stoppen. Aber die USA haben es auf eine Kraftprobe ankommen lassen. Ihr Ziel ist es, die Nato bis nach Georgien und der Ukraine auszudehnen. Scholl-Latour: Auch hier handelt es sich aus russischer Sicht um eine klare Provokation. Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, gilt immerhin als die „Mutter der russischen Städte“. Natürlich geht es für die USA vordringlich darum, Pipelines anzulegen, um die Erdöl- und Erdgasreichtümer, die früher unter der Kontrolle der Sowjetunion standen, an Rußland und an Iran vorbei direkt in den Westen zu leiten. Es geht hier nicht um die Freiheit Georgiens, die unter Saakaschwili ohnehin gering ist. Was die Ukraine betrifft, so haben wir es mit einem zutiefst gespaltenes Land zu tun. Wenn die Europäer noch eine Spur von Courage besäßen, würden sie bei dem amerikanischen Verbündeten darauf drängen, daß er von seinem Expansionsvorhaben absieht. Sonst? Was bedeutet es für uns, wenn die Nato bis Kiew und Tiflis ausgedehnt wird? Scholl-Latour: Das wäre vom militärischen Standpunkt aus völlig überflüssig, denn Rußland dürfte schwerlich zu einer Aggression gegen Europa ausholen. Was ist mit der russischen Militärmacht? Was mit dem russischen Nationalismus? Scholl-Latour: Die Russen haben heute ganz andere Sorgen, als einen Eroberungskrieg im Westen zu führen. Sie könnten sich eine solche Aggression gar nicht leisten, wir erleben hier eine gezielte Propaganda-Kampagne. Auf die wir wie reagieren sollten? Scholl-Latour: In Berlin sollte man endlich den Mut aufbringen, den USA — auch in deren eigenem Interesse — zu sagen: „Da machen wir nicht mehr mit!“ Deutschland ist ein gewichtiges Mitglied der Nato und braucht sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Wenn die Bundeskanzlerin gut beraten wäre, würde sie eng mit Frankreich zusammenwirken — aber offenbar besteht zwischen ihr und Präsident Sarkozy ein gespanntes Verhältnis. Haben die USA mit einer solch extensiven Nato-Erweiterung nur Rußland im Auge? Scholl-Latour: Nein, es geht auch darum, zwischen Europäern und Rußland einen Spannungszustand aufrechtzuerhalten. Die Neocons um Bush wollten vor allem verhindern, daß zwischen Deutschland und Rußland eine enge nachbarschaftliche Verflechtung entsteht. Dabei wende ich mich aber strikt gegen einen Bündniswechsel: Man hüte sich vor einem neuen Rapallo oder einer Wiederholung von Tauroggen — Deutschland muß atlantisch orientiert bleiben! Aber Europa und Rußland ergänzen sich nun einmal: Die Russen haben die Rohstoffe, die wir brauchen, und wir die technische Ausrüstung, die Rußland für den Ausbau seiner miserablen Infrastruktur dringend benötigt. Mißbrauchen die USA also die Nato? Scholl-Latour: In gewisser Weise ja, denn die Nato war als Verteidigungsbündnis gedacht. Nun versuchen die USA sie zum Instrument ihrer globalen Hegemonialpolitik zu machen. Wir sollten zur bewährten Sicherheitspartnerschaft zwischen Amerika und Europa zurückkehren. Der alte Kalte Krieg galt als von den Sowjets — wegen ihrer Bedrohung Westeuropas — provoziert. Folgt man Ihrer Analyse, tragen die Schuld am neuen Kalten Krieg aber die USA? Scholl-Latour: Die Regierung Bush trägt da eine schwere Verantwortung: Was bezwecken sie zum Beispiel mit den ständigen Sticheleien gegen China — an denen die Deutschen sich übrigens beteiligen. Präsident Clinton und George Bush Senior sind da sehr viel flexibler vorgegangen. Die heutige Lage läßt sich nur durch die ideologische Verirrung der Neocons und die unstillbare Gier der US-Erdölkonzerne und ihren Zugriff auf das zentralasiatische Öl erklären. Zur Ehre Amerikas muß allerdings gesagt werden, daß die dortige Presse in diesen Fragen viel kritischer auftritt als manche deutschen Medien, die die Amerikaner noch immer im verklärenden Licht als Sieger von 1945 sehen. Viele verbinden mit Barack Obama große Hoffnungen. Wird er der Richard Nixon oder Jimmy Carter des neuen Kalten Krieges werden, also der Präsident, der versucht, Konfrontation durch Kooperation zu ersetzten? Scholl-Latour: Obama befindet sich in einer ungleich schwierigeren Situation als seine Vorgänger Nixon oder Carter. Wenn er klug ist, sollte er begreifen, daß Moskau und Washington mit den gleichen gegnerischen Kräften konfrontiert sind. Auf der einen Seite ist es die islamische Revolution, die sowohl von Rußland als auch von den USA als Bedrohung empfunden wird. Die Auseinandersetzung mit dem militanten Islamismus könnte eines Tages auch auf die autonomen muslimischen Republiken wie Dagestan oder Tartastan übergreifen — ganz zu schweigen von Tschetschenien, das wohl nur temporär befriedet ist. Die heutige Situation ist deshalb so beklemmend, weil weder in Washington noch in Berlin eine angemessene Planung für diese neue Form des Kalten Krieges zu erkennen ist. In Berlin gibt es weder ein schlüssiges Konzept für Außenpolitik noch für Strategie. Der Kalte Krieg von einst hatte immerhin seine festen Spielregeln, und die Verteidigungsplanung des atlantischen Bündnisses gegen die Sowjetunion war in einen festen Rahmen gefügt. Damals war es nur natürlich, daß die USA die militärische Führung ausübten. Heute sind die Interessen zwischen Europa und Amerika allenfalls noch parallel, aber nicht mehr identisch. Präsident Obama sieht sich gezwungen, erst der wirtschaftlichen Katastrophe seines Landes entgegenzutreten. Aber er sollte auch nach einer Umgestaltung des Bündnisses Ausschau halten und im Umgang mit seinen Gegnern zumindest Gesprächsbereitschaft signalisieren.   Prof. Dr. Peter Scholl-Latour: Einen „der letzten großen Welterklärer der Deutschen“ hat ihn Hans-Ulrich Jörges, Chefredakteur des Stern, unlängst genannt: Peter Scholl-Latour, dieser „Weltreisende auf seinem fliegenden Teppich und deutsche David Livingstone“ (Günther Deschner), hat soeben bei Propyläen sein neues — mittlerweile schon 32. — Buch vorgelegt: „Der Weg in den neuen Kalten Krieg. Eine Chronik“ Das Werk versammelt die wichtigsten Aufsätze Scholl-Latours — darunter auch Beiträge aus der JUNGEN FREIHEIT — seit Beginn der aktuellen Afghanistan- und Irak-Krise und der Zuspitzung der globalen Mächtekonfrontation zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Scholl-Latour beschreibt darin „eine Welt aus den Fugen“, die in „einen neuen Kalten Krieg“ zu taumeln droht. Geboren wurde der Afrika-, Arabien- und Ostasien-Experte 1924 in Bochum. Er studierte in Mainz, Paris und Beirut und ist seit 1950 als Journalist tätig. 1969 wurde er Direktor des WDR, 1971 Chefkorrespondent des ZDF, 1983 Herausgeber des Stern und Vorstandsmitglied bei Gruner und Jahr. Inzwischen ist er seit über zwanzig Jahren freier Publizist. Seit 2003 schrieb er auch für die JUNGE FREIHEIT zahlreiche Artikel, zuletzt im Oktober zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr den Beitrag „Halbherziger Einsatz“ (JF 43/08). Am Sonntag erhält der Altmeister für sein Lebenswerk den von der JUNGEN FREIHEIT in Koorporation mit der Förderstiftung konservative Bildung und Forschung (FKBF) ausgelobten Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis für Publizistik.

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