Herr Professor Reinschke, liegt im Bologna-Prozeß das Heil für unsere Universitäten? Reinschke: Nein, das denke ich nicht. Zweifellos sind die grundsätzlichen Ziele des Bologna-Prozesses, nämlich die Mobilität der Studenten zu erhöhen oder die europäische Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen zu erleichtern, positiv zu bewerten, andererseits aber ist die Erhaltung der Vielfalt der Kulturen, der Sprachen und der nationalen Bildungssysteme ebenfalls wichtig. Das kommt übrigens auch im völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (VGEG) zum Ausdruck, der in den Artikeln 149 und 150 die Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems als Teil der Vielfalt der Kulturen festschreibt, und zwar „unter Ausschluß der Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten“. Was den Bologna-Prozeß angeht, so wird in der öffentlichen Debatte zum Teil der Eindruck erweckt, als sei dieser völkerrechtlich verbindlich, tatsächlich aber handelt es sich lediglich um Erklärungen der Bildungsminister. Das sollte man wissen und die Erklärungen von Bologna als Anregung begreifen statt als einen schicksalshaften, zwangsläufigen und unumkehrbaren Weg, wie das bei uns teilweise geschieht. Sehen Sie die seit der Humboldtschen Bildungsreform 1810 bestehende deutsche Universitätstradition durch Bologna in Gefahr? Reinschke: Die deutsche Universitätstradition leidet an den bildungspolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die weitgehend von der Ideologie der Achtundsechziger geprägt sind, die nach dem Marsch durch die Institutionen heute ja vielfach die Politik bestimmen. Denken Sie etwa an die ehemalige Bundesbildungsministerin Bulmahn, die von der Vorstellung getrieben schien, daß alte Zöpfe einfach abgeschnitten gehören. Besonders hervorheben möchte ich aber den Wandel im Selbstverständnis der unterschiedlichen Bildungsinstitutionen. In der Weimarer Republik gab es allein in Berlin neben der Technischen Hochschule in Charlottenburg noch 34 weitere technische Lehranstalten, teils staatlich, teils kommunal, teils privat. In Zahlen heißt das: Von den damals in Berlin ausgebildeten Ingenieuren hatten nur wenige Prozent einen universitären Abschluß. Was nicht bedeutet, daß die übrigen schlecht ausgebildet waren, im Gegenteil. Es waren praxisnah ausgebildete und berufstüchtige Ingenieure, die zu Recht selbstbewußt und stolz auf ihre Leistungen waren, sich aber nicht als Wissenschaftler verstanden. Die bewußte und nützliche Differenzierung zwischen den technischen Lehranstalten wurde zugunsten einer Pseudoakademisierung und Nivellierung aufgegeben, zum Schaden des Wirtschaftsstandorts einerseits und zum Schaden der erkenntnisorientierten Wissenschaft andererseits. Wie paßt dazu die Elitendiskussion, die es seit geraumer Zeit gibt? Reinschke: Man darf sich da nicht blenden lassen. Die Eliten-Diskussion ist eine Reaktion auf den Erfolg dieser Politik der Einebnung der Unterschiede und paßt insofern sehr gut dazu. Denn gerade die in Jahrzehnten stattgefundene Nivellierung führt zwangsläufig zu der Frage: Wie kann der kleine Prozentsatz eines Geburtsjahrgangs, der für die Künste oder die Wissenschaften von Natur aus begabt und auch ohne besondere materielle Anreize zu außergewöhnlichen geistigen Anstrengungen motiviert ist, im Rahmen des staatlichen Bildungssystem entdeckt und gefördert werden? Wären da Reformen nicht besser als Neugründungen nach angelsächsischem Vorbild? Reinschke: Natürlich sind Reformen nicht prinzipiell abzulehnen. Schon im Mittelalter galt: „Universitas semper reformanda“, die Universität muß ständig reformiert werden. Leider ist es in Deutschland in der Zeit der Aufklärung und des Neuhumanismus nicht gelungen, in einem kontinuierlichen Prozeß von der mittelalterlichen zur modernen Universität fortzuschreiten. In England haben es mittelalterliche Hochschulen wie Oxford und Cambridge sehr wohl geschafft, zu modernen Forschungsuniversitäten zu mutieren, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich die technischen Wissenschaften zu integrieren. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß die Humboldtsche Reformen, aus denen zu Beginn des 19. Jahrhunderts das humanistische Gymnasium und die deutsche Forschungsuniversität hervorgingen, einen weitestgehenden Neuanfang einläuteten. Zwischen 1790 und 1820 wurden 22 mittelalterliche Universitäten in Deutschland geschlossen, darunter auch die Universität in Frankfurt an der Oder, wo Wilhelm von Humboldt selbst noch studiert hatte. Im Laufe des 19. Jahrhundert gelang es in Deutschland nicht, die technischen Wissenschaften in die Universitäten zu integrieren, was zur Entstehung separater Technischer Hochschulen geführt hat. Friedrich der Große sprach in seinem Politischen Testament davon, daß jede große Institution aufgrund der menschlichen Schwächen dazu neige, nicht mehr den Anforderungen der Zeit zu genügen. Dann müsse man sich darauf besinnen, was der ursprüngliche Zweck der Einrichtung war, und sie in diesem Sinne reformieren. Diesen Grundsatz scheinen unsere Bildungspolitiker leider oft nicht zu berücksichtigen. Wenn heute bei uns einige Hochschulen gekürt werden – heißen sie nun Forschungs-, Elite- oder Exzellenzuniversitäten -, so meine ich, daß dies keinen Bruch mit der deutschen Hochschultradition bedeutet, denn die besteht ja gerade – im Geiste Humboldts – darin, in einer neuen Situation mit einem gewissen Neuanfang zu reagieren. „Bachelor“ und „Master“ statt Diplom, „Department“ statt Institut – ist das wirklich der notwendige Neuanfang? Reinschke: Die schwer begründbare Übernahme angelsächsischer Bezeichnungen scheint mir in der Tat etwas lächerlich. Mit dem früheren sächsischen Staatsminister Hans-Joachim Meyer betrachte ich es als ein Armutszeugnis der Sprachkultur, wenn die an deutschen Universitäten erworbenen Qualifikationen nicht mehr durch deutsche Worte bezeichnet werden können. Leider sind viele Bildungspolitiker mit den Feinheiten des angelsächsischen Bildungssystems nicht vertraut. Dort gibt es eine Vielzahl von Bildungseinrichtungen, die alle „University“ heißen, aber keine Universitäten in unserem Sinne sind. Jeder gebildete Brite weiß um die enormen Unterschiede zwischen den britischen Universitäten, die heute im Vereinigten Königreich in fünf Stufungen existieren, vom ersten Niveau, das sind Oxford und Cambridge, bis zum fünften, das sind die zu „Universities“ erhobenen „Polytechnics“. Der Marburger Soziologie-Dekan Dirk Kaesler hat gegen die Abschaffung des Diplom-Abschlusses in seinem Fach geklagt. Verantwortungslos oder verantwortungsbewußt? Reinschke: Der Diplom-Ingenieur zum Beispiel, so wie er in den deutschen Ländern in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kreiert wurde, hat sich bewährt und hat international einen sehr guten Ruf. Der Bachelor dagegen ist eine inhaltlich leere Bezeichnung, die sich im angelsächsischen Sprachraum als unterster Hochschulgrad aus mittelalterlicher Zeit erhalten hat. An meiner Fakultät gibt es die Möglichkeit eines Bachelor- und Masterstudiums schon seit 1998, parallel zu Diplomstudiengängen. Heute kommen auf ca. 150 Bewerber für einen Diplomstudiengang an unserer Fakultät aber nur etwa zehn Studenten, die sich für einen Masterstudiengang entschieden haben. Wenn man nun daran denken sollte, die Diplomstudiengänge per Gesetz zu verbieten – in anderen Bundesländern ist das leider bereits der Fall -, dann hat das mit einem fairen Wettbewerb wenig zu tun. Meines Erachtens handelt der Marburger Kollege durchaus verantwortungsbewußt. Die Öffentlichkeit nimmt vor allem die Namen der neuen Abschlüsse wahr. Wie tief reichen die Veränderungen tatsächlich? Reinschke: Was Bologna wirklich will, scheint in Deutschland schwer zu vermitteln zu sein, denn wir haben in der Debatte meist vor Augen, was das Haus Bulmahn uns darüber gesagt hat. So kommen etwa in dem englischen Originaltext der Berliner Bologna-Erklärung von 2003 die Termini „Bachelor“ und „Master“ gar nicht vor – das war eine Beigabe Bulmahns. Ursprünglich sind die Ziele des Bologna-Prozesses viel weiter gefaßt: Was gefordert wird, ist die Möglichkeit des universitären Austauschs von Studierenden und Lehrenden in Europa. Und der war bisher durchaus möglich. Die Behauptung, das deutsche Diplom kenne man im Ausland nicht und stehe der unausweichlichen Globalisierung im Wege, ist schlicht falsch und läßt nur auf Unkenntnis des Sprechers schließen. Also könnte als Alternative zur Egalisierung à la Bologna eine Hochschulreform auf nationaler Grundlage mit europäischer Ausrichtung durchaus gelingen? Reinschke: Zweifellos. Wenn zum Beispiel geklagt wird, daß deutsche Studenten oftmals zu bequem sind, um ins Ausland zu gehen – was in meinem Fach übrigens keineswegs der Fall ist -, dann sollte man vielleicht lieber die Ursachen angehen, statt die Lösung darin zu suchen, es ihnen noch bequemer machen zu wollen. Es ist hilfreich, an das Leistungsvermögen der deutschen Studenten und die gestellten Studienanforderungen an deutschen Ausbildungseinrichtungen in früheren Zeiten zu erinnern. Ein Beispiel: 1925 waren in der 1875 gegründeten Städtischen Gewerbeschule zu Leipzig in einem fünfsemestriges Studium insgesamt 210 Semesterwochenstunden zu absolvieren. An der heutigen Nachfolgerin in der Messestadt, der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur, werden dagegen in acht Semestern nur noch 176 Semesterwochenstunden geleistet. Tendenz weiter fallend. Das sind Entwicklungen, auf die man angemessen nicht mit „Anglisierung“ oder „Europäisierung“ reagieren kann, sondern vor allem damit, daß wir uns auf die Lebensweisheiten unserer Vorfahren besinnen. Prof. Dr. Kurt Reinschke lehrt Regelungs- und Steuerungstheorie an der Technischen Universität Dresden und ist Vorstand des Bundes Freiheit der Wissenschaft, der sich der Pflege und Verteidigung der Freiheit in Forschung und Lehre an den Universitäten widmet. Geboren wurde er 1940 in Zwickau. Kontakt: Bund Freiheit der Wissenschaft, Charlottenstraße 65, 10117 Berlin, Telefon: 030 / 20 45 47 04, im Internet: www.bund-freiheit-der-wissenschaft.de Stichwort „Bologna-Prozeß“: 1998, Sorbonne-Deklaration: Absichtserklärung Frankreichs, Englands, Deutschlands und Italiens, ihre Hochschulwesen zu vereinheitlichen. 1999, Erklärung von Bologna: 29 europäische Nationen fixieren diesen Willen schriftlich. 2001, Prager Kommuniqué: Bekräftigung und Ausbau der Ziele. 2003, Berliner Kommuniqué: Etappenziel bis 2005 formuliert. 2005, Konferenz von Bergen: Zieht eine Zwischenbilanz. 2010: anvisierter Abschluß des Prozesses. Stichwort „Bachelor und Master“: Sie ersetzen das Diplom. Bachelor ist ein berufsqualifizierender Abschluß nach sechs bis acht Semestern. Aufbauend kann in zwei bis vier Semestern der Master erworben werden, der zur Promotion berechtigt. Die Abschlüsse sind umstritten. In Hamburg erklärte ein Gericht den Bachelor einer Privatuniversität für nicht berufsqualifizierend. Stichwort „Humboldt-Universität“: 1810 von Wilhelm von Humboldt gegründet, gilt sie als „Mutter aller modernen Universitäten“. Humboldts Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre und der allseitigen humanistischen Bildung setzte sich im 19. Jahrhundert weltweit durch. weitere Interview-Partner der JF