Über Neubürgerinnen wie Seyran Ateş müßte Deutschland sich vorbehaltlos freuen, doch viele fühlen sich durch sie provoziert. Eine türkischstämmige Anwältin, die keine Ausländerdiskriminierung, sondern Zwangsverheiratungen und Gewalt in muslimischen Familien anprangert, die Bildungsferne und Hängemattenmentalität kritisiert und die staatliche Toleranz gegenüber Parallelgesellschaften für tödlich hält, sie paßt nicht in das Bild, das Deutschlands gute Menschen sich von der Welt gemacht haben. Zusätzlich steht Ateş unter dem Druck türkischer Verbände und Zeitungen, für die sie eine Nestbeschmutzerin ist. Vergangene Woche hat sie öffentlich gemacht, ihre Berliner Kanzlei aus Angst zu schließen. Ein Hilferuf, der immerhin soviel Resonanz fand, daß Ateş die Schließung am Montag doch widerrief. Den Anstoß zu Ateş‘ Rückzugsankündigung gab der Überfall auf eine türkische Mandantin, die unmittelbar nach einem Scheidungsverfahren von ihrem Ehemann verprügelt wurde. Er bedrohte auch Ateş. Keiner der Umstehenden besaß genug Zivilcourage, um einzugreifen. Ateş sah ein, daß sie mit ihrem staatsbürgerlichen Engangement auf verlorenem Posten steht. Seyran Ateş wurde 1963 in Istanbul geboren. 1969 kam sie mit ihren zwei Brüdern nach Berlin, die Eltern waren Gastarbeiter. Die Rolle des unterwürfigen Mädchens, die man ihr zuwies, akzeptierte sie nicht. Auf eigene Faust erkundete sie ihre Umgebung und sprach bald perfekt Deutsch. Auch deshalb, sagt sie, weil sie die einzige Türkin an ihrer Schule war. Dort lernte sie zuerst Geringschätzung kennen, dann Akzeptanz und stieg zur Klassensprecherin auf. Schon als Kind begleitete sie Eltern, Verwandte und Nachbarn zu Behörden, um Übersetzerdienste zu leisten. Bei dieser Gelegenheit eignete sie sich das vertrackte Juristendeutsch an und reifte gegen den Willen der Familie ihr Entschluß, Rechtsanwältin zu werden. 1984 schoß ein türkischer Extremist auf einen Frauentreff, in dem die Studentin sich aufhielt. Eine Frau starb, Ateş entging dem Tod nur um Haaresbreite und wurde schwer verletzt. Der Attentäter wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Für eine Person ihres Alters verfügt Ateş über etwas, das in Deutschland selten ist: über eine schicksalhafte Biographie. Sie weiß, wovon sie redet, wenn sie die „multikulturelle Gesellschaft“ eine „Fiktion“ nennt. Sie lobt die dänischen Ausländergesetze, die von Einwanderern die Akzeptanz der landesüblichen Sitten verlangen. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist für sie eine schiere Selbstverständlichkeit. Zwischen den Grünen und den türkischen Verbänden in Deutschland existiere eine „rassistische Allianz“, für die die Zuwanderer nur eine „dumme“ Verfügungsmasse darstellten. Berliner Lokalpolitiker werfen ihr nun „larmoyante Selbstinszenierung“ vor und mutmaßen, der Rückzug sei in Wahrheit die Bewerbung um politische Ämter, die mehr Geld einbringen. Einem Land, das sich selber nicht mag, muß eine Zuwanderin, die dieses Land schätzt und für schützenswert hält, fremd und unerklärlich bleiben.