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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Marc Jongen, ESN Fraktion

„Verurteilung statt Diskussion“

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„Verurteilung statt Diskussion“

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Frau Margolina, dem CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann wird vorgeworfen, in unziemlicher Weise die Rolle jüdischer Kommunisten während und nach der Oktoberrevolution thematisiert zu haben. Sie haben in Ihrem aufsehenerregenden Buch „Das Ende der Lügen“ 1992 die Rolle von Juden damals untersucht. Auch Sie sahen sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Woran liegt das? Margolina: In der deutschen Gesellschaft stößt es auf geharnischten Protest, die Ereignisse ab 1917 in Zusammenhang mit Juden zu bringen. Der Grund ist der Holocaust und die in Deutschland vorherrschende, daraus gezogene Schlußfolgerung, daß Juden immer nur Opfer waren und Opfer für immer bleiben werden. Es ist für die Deutschen offenbar schwer vorstellbar, daß die Juden „mehrere Geschichten“ haben können, nicht nur die der Schoa. Welche Geschichte der Juden haben Sie in Ihrem Buch entdeckt? Margolina: Ich habe sie nicht entdeckt, viele Forscher beschäftigten sich mit der Beteiligung von Juden am Aufbau des Sowjetsystems. Ich habe ihre Ergebnisse nur zum Anlaß genommen, um darüber nachzudenken, warum das ausgerechnet in Rußland geschehen konnte und dieses faszinierende Kapitel der jüdisch-russischen Geschichte so tabuisiert wurde. In Deutschland gilt ein Diskussionsverbot als Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus. Margolina: Ich halte das vielmehr für Dummheit und für einen der Gründe, warum solche Affären, wie etwa die um den Abgeordneten Hohmann, überhaupt stattfinden. Bitte? Margolina: Natürlich, immer gibt es sofort Entrüstung und Verurteilung statt Diskussion – der Sünder wird entsorgt, danach Schwamm drüber. ­ Kein Wunder, wenn das immer wieder in regelmäßigen Zeitabständen ausbricht. Also nicht die Protagonisten, in diesem Falle Herr Hohmann, sondern die Situation provoziert den „antisemitischen“ Eklat? Margolina: Mitunter ist es oft tatsächlich so – nehmen wir zum Beispiel die Degussa-Affäre: etwas Dümmeres als das herbeizureden kann man sich doch gar nicht vorstellen! Ausgerechnet den Konzern an den Pranger zu stellen, der seine Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet hat. Es fehlt nicht an Antisemiten, aber es gibt auch Menschen, die sich mit den Juden verstehen wollen, und sie dürfen die Frage stellen, was es mit dem „jüdischen Bolschewismus“ auf sich hat, warum Juden in der Revolution eine so herausragende Rolle gespielt haben. Warum nicht die Armenier oder sonst eine andere Minderheit, von denen es in Rußland nicht wenige gegeben hat? Doch statt Antworten bekommt man auf solche Fragen nur den Vorwurf des Antisemitismus zu hören. Erinnern Sie sich zum Beispiel an den deutschen Musiker, der bei der Tournee seines Orchesters durch Israel in betrunkenem Zustand seine Hotelrechnung mit „Adolf Hitler“ unterschrieben hat? Die Deutschen scheinen, was ihr Selbstbewußtsein angeht, unsicher zu sein, besonders wenn sie im Ausland oder vom Ausland immer wieder an die Kollektivschuld erinnert werden. Mitunter sind sie es gewohnt, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen und über sich selbst in der dritten Person zu reden. Also ein Nazi-Vorfall, der gar keiner war? Margolina: Ich vermute, daß sich der Mann damals als Deutscher in Israel einfach unwohl gefühlt hat, weil er unterschwellig Schuldgefühle hatte. So sitzt ein besoffener Kerl angespannt in der Kneipe, und bildet sich ein, er würde von den Israelis als Nazi angeguckt, obwohl sie ihn vielleicht gar nicht zur Kenntnis nehmen. Dann bricht das alles aus ihm heraus. Hat man in Deutschland über ein solches sich unwohlfühlen geredet? Statt dessen ist der Mann sozial zerstört worden. Und so etwas passiert immer wieder. Man kann auf jede Situation unterschiedlich reagieren, doch in Deutschland gibt es offenbar immer wieder nur denselben Reflex. Er setzt eine öffentliche Maschinerie in Gang, die in gebetsmühlenartiger Weise eine rituelle „Selbstreinigung“ vornimmt, tatsächlich aber gar nichts reinigt, sondern nur unter den Teppich kehrt. Wie ist dieser „Selbstreinigungsbetrieb“ zu erklären? Geht es da auch um den Erhalt der kulturellen Vorherrsachft der Achtundsechziger-Eliten? Margolina: Habermas hat gesagt, es gebe keinen herrschaftsfreien Diskurs. Die Generation derjenigen, die die Geschichte aufgearbeitet haben, dominiert nach wie vor den öffentlichen Raum; schon vor der Wende war die Historisierung der Geschichte fällig, aber der Historikerstreit endete mit den üblichen Unterstellungen. Man kann nur hoffen, daß die nächste Generation hier wieder mehr Freiheit schafft. Sehen Sie dafür irgendwelche Anzeichen? Margolina: Ehrlich gesagt, nein. Ich befürchte sogar, daß es in puncto Meinungsfreiheit in Deutschland in Zukunft noch schlimmer werden wird, weil die Jugend konformistisch erzogen wird. Aber man könnte sich vorstellen, daß die „revisionistischen“ Anregungen irgendwann aus dem Ausland, zum Beispiel aus den USA, kommen. Konformismus ist eine Vokabel, die in der Bundesrepublik gemeinhin mit Nationalsozialimus und Kommunismus identifiziert wird, Revisionismus mit Rechtsextremismus. Margolina: Konformismus gibt es in jeder Gesellschaft, in den USA ­ wie in Frankreich. Aber das ist kein Grund, sich damit abzufinden. Es ist nicht hinnehmbar, wenn Leute durch das auch nur leiseste Äußern eines Antisemitismus-Verdachtes – der hierzulande mit jeder Kritik an einem Juden gleichgesetzt wird – gesellschaftlichen oder sozialen Repressionen ausgesetzt werden. Konformismus beginnt in der Schule, wo die Anleitungen vermittelt werden, wie man über die Geschichte zu denken hat. Die Kinder werden zu passiven Empfänger vorgefertigter Meinungen degradiert. Gerade unsere Schulen und Massenmedien gelten aber als Orte vorbildlicher Aufarbeitung deutscher Geschichte? Margolina: Unter Aufarbeitung verstehe ich eine selbstständige Denkarbeit, also nachzudenken und nicht nach Vorschrift nachzuplappern, was in den Schulbüchern steht. Deshalb wollen die Schüler auch von den Juden nicht mehr hören. Sind Ihnen die Deutschen unheimlich? Margolina: Warum? Wegen Ihrer „Aufarbeitung“? Margolina: Unheimlich doch nicht. Anfangs habe ich die Deutschen für ihre einmalige und sehr unnatürliche Leistung bewundert: Es gibt kein anderes Volk, daß seine Geschichte derart aufgearbeitet und seine Schuld so offen bekannt hat. Leider haben die Deutschen daran aber auch Schaden genommen. Inwiefern? Margolina: Es ist doch nur natürlich, zu versuchen, sich seine Schuld nicht einzugestehen und lieber einen Sündenbock für die eigene Misere zu finden. Es ist viel bequemer für eine Gemeinschaft, sich als Opfer zu verstehen, denn das befördert die nationale Identität ungemein. Die Anerkennung eigener Schuld aber gefährdet das nationale Selbstbewußtsein. Andererseits halten viele das nationale Bewußtsein für überholt. In Europa aufzugehen ist auch ein Weg, das Stigma des „Tätervolks“ loszuwerden. Wo endet dieser Prozeß, in der Auflösung Deutschlands? Margolina: Das wäre zu viel gesagt, ich würde eher von der Bedeutungslosigkeit sprechen. Sie ist der Preis für den Wahn des Zweiten Weltkriegs. Es bleibt den Deutschen nichts anderes übrig, als Europäer zu werden. Allerdings, die anderen Nationen wollen nur deshalb Europäer werden, um ihre nationalen Interessen besser durchsetzten zu können. Und daraus resultiert das, was Herr Hohmann in seiner Rede als Erpressung verstehen will: der Druck auf Deutschland, das nicht angemessen seine Interessen verteidigen kann. Immer beugten sich die Deutschen dem Willen der anderen, lamentiert er. Weil sie nicht selbstbewußt genug seien, die Verdächtigungen und Unterstellungen der anderen zurückzuweisen, zahlten sie schließlich zu viel. Die Deutschen können nicht anders als zu zahlen, da sie in Angst leben, an ihr Verbrechen immer wieder erinnert zu werden. Sie sind selbst Jüdin, wie empfinden Sie den Zusammenhang zwischen Deutschsein und den Verbrechen der Nazis? Margolina: Auch für mich war Deutschland zunächst das Land der Täter, zumal viele Verwandten meiner Eltern in Weißrußland liquidiert wurden. Die Tatsache, daß Juden ihrerseits in das Terrorsystem in der Sowjetunion verstrickt waren, half mir aber, mich mit der deutschen Vergangenheit zu arrangieren. Fühlten Sie sich denn als Jüdin wegen der Verbrechen jüdischer Kommunisten in der Sowjetunion schuldig? Margolina: In gewisser Weise ja, zumindest fühlte ich mich nicht rechthaberisch, deshalb habe ich auch das Buch darüber geschrieben. Heute verstehe ich das Engagement der Juden für den Sozialismus als tragische Verwicklung, ich bin nachsichtiger geworden. Mit sich selbst? Margolina: Nein, mit der Rolle der Juden. Ich versuche meinerseits, ihre Verstrickung zu historisieren, zumal wir Zeugen ganz anderer Prozesse sind, sowohl in Rußland als auch im Nahen Osten, die noch sehr tragisch ausgehen können. „Tragisch“ ist vermutlich auch die Sichtweise Hohmanns auf die deutsche Schuldverstrickung. Man könne das jüdische Volk als „Tätervolk“ betrachten, wenn man eine moralisierende Logik zu Grunde lege, die er aber zu Gunsten der tragischen Sicht nicht zu Grunde legen möchte. Margolina: Das deutsche Problem ist die Fixierung auf die Begriffe, zum Beispiel „Tätervolk“, den die Deutschen offenbar allein für sich reservieren wollen. Er hätte das Unwort nicht in den Mund nehmen sollen. Ich empfinde diese Fixierung zudem als masochistisch. Warum zählen denn eigentlich die Sozialdemokraten und all die anderen Deutschen, die gegen Hitler gestimmt und gekämpft hatten, nicht? Oder jene Deutsche, die in Dachau saßen, den Juden geholfen haben etc. Natürlich waren die meisten Deutschen Konformisten – genauso wie heute. Der Konformismus ist eine anthropologische Konstante, und deshalb will ich die These der deutschen Kollektivschuld nicht akzeptieren. Der Versuch Hohmanns, das deutsche Volk vom Stigma der Kollektivschuld durch die Stigmatisierung der Juden zu befreien, war sehr unglücklich und historisch irrelevant, weil die Sowjetgeschichte ziemlich anders verlief. Abgesehen davon, daß es eine große Frage wäre, ob Juden, die in der ganzen Welt zerstreut lebten, als „Volk“ definiert werden könnten. Dumm gelaufen. Ist Hohmann ein Antisemit? Margolina: Ich weiß es nicht, ich kenne Herrn Hohmann nicht. Mit Gewißheit kann aber gesagt werden, daß er ganz offensichtlich mit den Quellen nicht umgehen kann. So zitiert er zum Beispiel Henry Ford, wohl weil er glaubt, daß ein Amerikaner kein Antisemit sein könne, dabei war Ford ein bekennender Antisemit. Herr Hohmann hat sich völlig verlaufen. Liest man die Rede Hohmanns ganz, wird klar, daß sein Anliegen nicht ist, die Juden als Tätervolk zu beschuldigen. Es gibt sogar die ausdrückliche Bemerkung „… die Juden sind kein Tätervolk“, die aber von fast allen Medien unterschlagen wurde. Vielmehr versucht er mittels des Vergleichs von Deutschen und Juden, die Deutschen vor dem Verdikt „Tätervolk“ in Schutz zu nehmen. Margolina: Ich weiß, aber dennoch bleibt sein Ausgangspunkt ein Ressentiment gegen all die vermeintlichen dunklen Mächte, die die Deutschen „unterdrücken“ und sie mittels der Drohung mit der Keule des „Tätervolkes“ materiell ausbeuten. Um aufrecht stehen zu können, sollten die Deutschen endlich aufhören zu jammern und in der Realität des 21. Jahrhunderts ankommen. Hohmann jammert aber. Allerdings haben Sie recht: seine Rede wurde sehr selektiv gelesen. Über die Absichten Hohmanns wird gar nicht debattiert, lediglich der Begriff „Tätervolk“ in bezug auf Juden wurde aus dem Kontext gerissen und zum Anlaß genommen, ihn auszuschalten. Die Rede war aber, wie gesagt, nicht gut und ressentimentgeladen. Deshalb war es ja auch ein so leichtes Spiel, sie auszuschlachten. Befürworten Sie die Anzeige des Zentralrats der Juden gegen Hohmann? Margolina: Die Anzeige wegen Volksverhetzung sehe ich im Zusammenhang mit der Friedman-Affäre. Er war einer der exponiertesten Vertreter der jüdischen Gemeinde, der an die anderen sehr hohe moralische Forderungen stellte. Er hat sich mit dem Kokain und den Prostituierten aus der Ukraine unglaubwürdig gemacht und einen Schatten auf die Gemeinde geworfen. Juden haben immer auf dem Recht bestanden, nicht besser als die anderen zu sein und auch eigene schwarze Schafe haben zu dürfen. Dieses Recht hat Friedman in die Tat umgesetzt. Man hat sogar versucht, das Strafverfahren gegen Friedman als Rache für den Tod Möllemanns zu interpretieren. Ich glaube, die jüdischen Repräsentanten fühlen sich nach dieser Affäre immer mehr von Antisemiten umzingelt und haben die Flucht nach vorn ergriffen. Das ist sehr traurig. Alle Juden wissen, daß der Antisemitismus nicht auszurotten ist. Die jüdische Gemeinde könnte viele Sympathien gewinnen, wenn sie ausgleichend, beschwichtigend und nicht so zuspitzend auf die Ausfälle reagieren würde. Aber das ist reines Wunschdenken, dafür müßte sich sehr viel in den Köpfen ändern. Sonja Margolina geboren 1951 in Moskau als Tochter einer jüdischen Familie, publizierte sie 1992 das Buch „Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert“ (Siedler-Verlag) und löste damit eine heftige Kontroverse aus. In diesem Titel untersuchte sie aus persönlicher Sicht die Rolle der jüdischstämmigen Revolutionäre unter den russischen Bolschewisten und deren Verantwortung für Verbrechen der kommunistischen Gewaltherrschaft in Rußland. Die Publizistin veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema Rußland und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Ursprünglich studierte sie Biologie. 1986 kam sie nach Deutschland, heute lebt sie in Berlin. weitere Interview-Partner der JF

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