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Nation als Schicksalsgemeinschaft: Des Glückes Unterpfand

Nation als Schicksalsgemeinschaft: Des Glückes Unterpfand

Nation als Schicksalsgemeinschaft: Des Glückes Unterpfand

Sonnenaufgang am Brandenburger Tor.
Sonnenaufgang am Brandenburger Tor.
Sonnenaufgang am Brandenburger Tor. Foto: picture alliance / Paul Zinken / dpa
Nation als Schicksalsgemeinschaft
 

Des Glückes Unterpfand

Von der Begeisterung der Wiedervereinigung vor 30 Jahren ist nichts geblieben. Doch im Trubel von Globalisierung und Neoliberalismus gewinnen Nation und Identität wieder an Bedeutung. Der Nationalfeiertag bietet Gelegenheit sich dessen zu erinnern, was den unpersönlichen Stolz der Deutschen ausmacht. Ein Kommentar von Karlheinz Weißmann.
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Vergleicht man das Deutschland der Gegenwart mit dem vor dreißig Jahren, fällt sofort der Unterschied der Stimmungslage von 1989/90 auf. Es ist nichts geblieben von der Hochspannung und der Begeisterung. Das gilt vor allem für die „neuen“ Bundesländer, in denen weiland alles, was aus den „alten“ kam, enthusiastisch begrüßt wurde: die Währung, die Verfassung, die Parteien, die Mode, die Musik, die Ernährungsgewohnheiten. Damals war „Ostalgie“ ein schwer vorstellbarer Gemütszustand.

Wenn das heute anders ist, dann kaum, weil eine nennenswerte Zahl von Menschen das SED-Regime zurückhaben möchte. Eher geht es um bleibende Enttäuschung und Entfremdung. Die haben eine Ursache in naiven Erwartungen der Bewohner des „Beitrittsgebiets“, eine andere in der Borniertheit der Kernbundesrepublikaner. Erstere ist verzeihlich, letztere nicht. Sie findet nur sinnfälligen Ausdruck darin, daß die meisten immer noch lieber nach Mailand als nach Dresden fahren.

Der „Wessi“, der „Dunkeldeutschland“ nicht für einen Hort von Neonazis hält, der vermutet bei den „Ossis“ doch Aufklärungsdefizit und Zweitakter- wie Arme-Leute-Geruch. Die Wahrnehmung, daß der Kollaps der „DDR“ auch die „BRD“ in Frage stellte, hat sich schnell verflüchtigt. Die „Berliner“ wird gemeinhin als bruchlose Fortsetzung der „Bonner Republik“ verstanden. Was nur möglich ist, weil man die historische Dimension der Vorgänge 1989/90 verdrängt hat.

Das Narrativ der unverdienten Gnade

In einer kollektiven Gedächtnislücke ist alles verschwunden, was die Dramatik der Geschehnisse ausmachte: die Möglichkeit einer „chinesischen Lösung“, also der blutigen Niederschlagung der „Friedlichen Revolution“ oder eines unkontrollierbaren Abrutschens der Planwirtschaft, die Gefährdung der Einheit durch Kohls Beharren auf der Westbindung oder die Quertreibereien in London, Paris, Rom und Warschau oder ein Kurswechsel Moskaus in letzter Stunde.

Entscheidender als dieser Blackout ist nur die Ausblendung des größeren geschichtlichen Kontextes: daß die Ursache für die Teilung der deutsche Zusammenbruch von 1945 war, der den Siegern erlaubte, mit den Besiegten nach Gutdünken zu verfahren. Also amputierten sie das Reich im Osten und sicherten sich vom verbliebenen Rest je einen Part, den sie zum Vorposten des eigenen Blocks ausbauten und als denkbaren Kampfplatz eines Dritten Weltkriegs bereithielten.

Nichts davon spielt heute eine Rolle für das öffentliche Bewußtsein. Durchgesetzt hat sich statt dessen das Narrativ vom „Glücksfall Wiedervereinigung“ und noch stärker das von der unverdienten Gnade, die dem „Tätervolk“ zuteil wurde, über das das Weltgericht die Teilung als Strafe verhängt hatte. Entsprechende Denkmuster wurden früh verankert. Aber es gab unmittelbar nach der Wiedervereinigung noch Einspruch gegen solche Interpretationen.

Besonders deutlich wird das an einem 1994 von Wolfgang Schäuble veröffentlichten Buch, das im Titel eine Zeile der DDR-Hymne zitierte – „Und der Zukunft zugewandt“ –, damit aber nur zum Ausdruck bringen wollte, daß es für Deutschland und die Deutschen um eine Neuorientierung im denkbar weitesten Sinn ging.

Schäuble benutzte die Nation als politisches Kalkül

Folgte man Schäuble, war die nur möglich, wenn man bestimmte Strukturfehler korrigierte, zu denen die Durchsetzung einer „individualistischen Kultur“ im Namen von „Selbstverwirklichung“ und „Emanzipation“, der Verfall der Familie und der demographische Niedergang gerechnet wurden. Aber Schäuble bezog sich auch auf eine allgemeine Formschwäche, die man in der jüngeren Vergangenheit zugelassen hatte. Damit sei es nun vorbei.

Jetzt müsse man die Deutschen zu der Einsicht bringen, daß die Nation nach wie vor die ausschlaggebende „Schutz- und Schicksalsgemeinschaft“ bilde, die ein Recht auf „Selbstbehauptung“ habe, auch im Blick auf „Überwanderung oder Überfremdung“.

Schäuble gehörte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbestritten zur politischen Elite: Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, aussichtsreichster Anwärter auf die Nachfolge Kohls als Kanzler, aber auch der Mann, der den Einigungsvertrag ausgehandelt hatte, der „Architekt der Einheit“. Das hat ihn nicht vor Kritik geschützt, die sich vor allem an seiner Forderung nach „Rückbesinnung auf unsere nationale Identität“ entzündete.

Es ist bei einem homo politicus wie Schäuble unwahrscheinlich, daß er eine entsprechende Äußerung absichtslos gemacht hat. Es dürfte neben Überzeugung auch Kalkül im Spiel gewesen sein. Ein Kalkül, das ihn bewog, eine Position zu vertreten, der er Anziehungskraft zutraute. Anziehungskraft, die auf der Annahme gründete, daß die Deutschen nur darauf warteten, daß ihnen jemand die Rückkehr zur „Normalität“ in Aussicht stellte, das Ende des gebeugten Ganges und eines Selbstbildes, das letztlich auf Negation beruhte.

Die Geschichte hat kein Ende

Dieses Kalkül ist nicht aufgegangen, und in der Folge hat Schäuble seine Stellung stillschweigend geräumt. Was auch damit zu erklären war, daß sich die Antipatrioten vom Wiedervereinigungsschock überraschend schnell erholten, dreist ihre Fehler und ihr Versagen in Abrede stellten und die Hatz auf alle „Normalisierungsnationalisten“ (Peter Glotz) eröffneten.

Das hätte aber nicht genügt. Was schwerer wog, war die Wucht, mit der Globalisierung und Neoliberalismus seit den 1990er Jahren nicht nur über Deutschland, sondern über den ganzen Wohlstandsgürtel hinweggingen. Jetzt schien es so, als ob die Träume aller Kosmopoliten wahr würden, das Ende der Geschichte denkbar sei, eine Welt im Entstehen begriffen, in der jeder einzelne nach Gutdünken sein Leben gestalten könne, ungehindert durch Tradition, Staat, kollektive Bindung.

Wir wissen heute, daß diese Erwartung nichts als eine Illusion war; eine gefährliche Illusion. Wir sehen uns zurückgeworfen auf Einsichten, die vergessen wurden und mühsam wiedergewonnen werden müssen. Dazu gehört, daß die Geschichte kein Ende hat, und daß sie „darwinistisch gestimmt“ (Rudolf Augstein) ist.

Das heißt, es geht um Existenzfragen, die weder unter Hinweis auf den einzelnen noch unter Hinweis auf die Menschheit zu beantworten sind. Nation und Identität gewinnen ihre entscheidende Bedeutung zurück. Was bedeutet, daß der wichtigsten politischen Einheit neue Lebenskraft einge ößt und der Widerstand gegen alle Kräfte organisiert werden muß, die ihren Bestand bedrohen.

Der Freiheitsgedanke stammt aus unseren Wäldern 

Wie dringlich diese Aufgabe ist, kann man dem Fortschreiten des Kulturkriegs entnehmen, der seinen letzten Höhepunkt in den „Black Lives Matter“-Protesten fand. Denn bei deren Orchestrierung ging es nicht um vermeintliches oder wirkliches Unrecht, auch nicht um das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Hautfarbe, sondern darum, unser Selbstverständnis zu treffen, den Weißen weiszumachen, daß wir nichts wert seien und unsere Vergangenheit nur Despotie, Sklaverei und Massenmord.

Dagegen hat sich selten eine Stimme erhoben, aber in Frankreich wenigstens die des Schriftstellers Denis Tillinac, der die Größe seines Vaterlandes beschwor, das das Erbe der antiken Zivilisation bewahrte und zur ältesten Tochter der Kirche wurde, dessen Menschen die Kathedralen erbaut und den Humanismus hervorgebracht haben, den Glanz der Monarchie Ludwigs XIV. wie die le-vée en masse der Revolutionsheere, die Grabenkämpfer des Ersten Weltkriegs und die, die in der Résistance ihr Leben gaben.

Wenn der gesunde einzelne seine Identität auf ein besseres Ich bezieht, dann bezieht die gesunde Nation ihre Identität auf ein besseres Wir. Daraus speist sich jener „unpersönliche Stolz“ (Max Weber), der die Nation am Leben erhält. Weshalb der Nationalfeiertag Gelegenheit bieten sollte, sich dessen zu erinnern, was den unpersönlichen Stolz der Deutschen ausmacht: Wir sind die, in deren Wäldern der Gedanke der Freiheit geboren wurde, wir sind die Erben Roms, wir haben Dome und Burgen errichtet und das Abendland verteidigt, an den Küsten im Norden und auf dem Lechfeld, bei Liegnitz und vor den Toren Wiens.

Das sind wir!

Wir haben die Reformation hervorgebracht – jene geistige „Welttat“, von der Fichte meinte, daß sie für ein ganzes Völkerleben genügte –, wir haben die Aufklärung vollendet und die Romantik entdeckt. Die Musik unserer Komponisten erklingt in den Konzertsälen, und die Texte unserer Philosophen – Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger – werden in allen Seminaren diskutiert.

Wir haben ein von der Welt beneidetes Bildungssystem geschaffen (von dem nicht viel übrig ist), aus unseren Reihen stammen namenlose Tüchtige, Fleißige, Ordentliche und viele berühmte Gelehrte, Forscher und Erfinder.Die Waffentaten unserer Soldaten haben selbst ihren Gegnern Respekt abgefordert.

Und wir zählen Männer und Frauen zu unseren Helden, die den einzigen Versuch unternahmen, ein totalitäres System von innen zu stürzen. Wir sind die, die man weder durch dreißigjährige Kriege noch durch dauernde Teilungen in die Knie gezwungen hat. Wir sind die, die eine Sache um ihrer selbst willen tun, und die, denen ein starkes Warum genügt, um fast jedes Wie zu ertragen. Das sind wir!

JF 41/20

Sonnenaufgang am Brandenburger Tor. Foto: picture alliance / Paul Zinken / dpa
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