Ignorieren, diffamieren, koalieren – diese Dreistufenbehandlung hat noch jede Partei erfahren, die es erstmals in den Bundestag geschafft hat. Die Grünen brauchten 15 Jahre ehe sie unter Kanzler Gerhard Schröder 1998 auf Ministersesseln Platz nehmen durften. Der Linken war dieser Erfolg bislang nur in den Ländern vergönnt. Ihr bundespolitischer Ritterschlag steht noch aus.
Die AfD befindet sich jetzt mitten in der Diffamierungsphase, nachdem sie lange ignoriert worden war. Aktuell betroffen ist die Abgeordnete Mariana Harder-Kühnel, die Kandidatin der größten Oppositionspartei für das Amt der Bundestagsvizepräsidentin. Kein Einzelfall übrigens: Im neu gewählten bayerischen Landtag haben die Abgeordneten kürzlich dem AfD-Kandidaten, einem verdienten Polizeidirektor, die rote, undemokratische Karte gezeigt und einen Platz im Präsidium verweigert.
Mißachtung der parlamentarischen Wirklichkeit
Zum zweiten Mal haben die Altparteien jetzt im Bundestag Harder-Kühnel durchfallen lassen. Altparteien? Dieser Begriff drückt Distanz aus, meint auch eine Abwertung des politischen Gegners. Von „Altparteien“ sprechen AfD-Parlamentarier oft, um sich abzusetzen von der Politik der Union, SPD, FDP, Grünen und Linkspartei. Nach ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag Anfang der achtziger Jahre war bei den Grünen ebenfalls von den Altparteien die Rede. Ein Begriff gleichwohl, der die Zusammenarbeit der Fraktionen im Bundestag sicher nicht befördert.
Seit Donnerstag Abend hat die AfD jedes Recht, ihre politischen Gegner als Altparteien zu bezeichnen. Verweigern diese doch der AfD das in der Parlamentsgeschäftsordnung verbriefte Recht, wie die übrigen Fraktionen einen Bundestagsvizepräsidenten zu stellen. „Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten“, heißt es dort über das sogenannte Grundmandat der Fraktionen. Doch die Mehrheit in Union, SPD und den kleinen Oppositionsparteien blendet die parlamentarische Wirklichkeit aus, vertritt ihre alte Sicht, Mitwirkungsrechte abhängig zu machen vom politischen Wohlverhalten. Welch eine schäbige Gesinnung, beschädigt sie doch das Ansehen des Bundestages. Schäbig auch deshalb, weil den Altparteien die Mitgliedschaft in der AfD ausreicht, um die Kandidatin Harder-Kühnel scheitern zu lassen. Inhaltliche Vorbehalte gegen die renommierte Rechtsanwältin: Fehlanzeige.
Schäuble muß jetzt handeln
Dabei müßte zumindest Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wissen, daß sich politische Borniertheit nicht auszahlt. Als CDU/CSU-Fraktionschef hat er den Grünen 1994 einen Platz im Parlamentspräsidium verschafft; auf Kosten der empörten SPD. Seitdem gilt für jede Fraktion das Recht auf ein Grundmandat im Präsidium. Und vier Jahre später hatte sich der Bundestag daran zu gewöhnen, daß eine PDS-Kandidatin die Plenarsitzungen leitete.
Es ist zu hoffen, daß die Mehrheit des Bundestags sich der demokratischen Gepflogenheiten erinnert und die AfD-Kandidatin im Januar zur Bundestagsvizepräsidentin wählt. Und es ist Schäubles Aufgabe als Bundestagspräsident, diese Wahl in internen Gesprächen mit den übrigen Fraktionen zu sondieren. Die politische Allzweckwaffe der CDU hat unerreichte 46 Jahre Bundestag auf dem Buckel, verfügt also über die nötige Autorität, das Ansehen des Bundestags wieder herzustellen. An einer Eskalation, den Streit über die Auslegung der Geschäftsordnung auszutragen, kann niemand ein Interesse haben.