In Israel gratulierte Kanzlerin Merkel als erster ausländischer Regierungschef zum anstehenden 60. Jahrestag der Gründung des Judenstaats – im Namen der deutschen „Bevölkerung“. Noch Helmut Kohl hatte bei solchen Anlässen vom „deutschen Volk“ gesprochen. Doch nicht nur dieser Akzent hat sich geändert. Zwar war seit Adenauer und Ben Gurion der Umgang zwischen Deutschland und Israel von „besonderen Beziehungen“ bestimmt. Sie hatten ihre Begründung in der Verfolgung und Massentötung von Juden in der NS-Zeit und in der Verantwortung, die die junge Bundesrepublik dafür übernehmen wollte oder mußte. Doch diese Sonderbeziehungen bewegten sich in einem gestaltungsoffenen Rahmen, der abweichende Auffassungen in außenpolitischen Dingen nicht nur zuließ, sondern auch für beide Partner nutzbar machte. Israel hat die – noch – guten deutschen Kontakte zu arabischen Staaten und zum Iran, zu Hisbollah und Hamas oft nutzen können, um humanitäre Fragen zu lösen. Deutsche Regierungen vor Merkel haben – bei aller konstant durchgehaltenen Unterstützung für den jüdischen Staat – aus gutem Grund stets versucht, zumindest den Anschein „wohlwollender Neutralität“ in den vielen Konflikten zu wahren, die sich aus dem Spannungen zwischen Israel, seinen arabischen Nachbarn und den Palästinensern in den ihnen verbliebenen Gebieten ergaben. Nicht zuletzt hing die Intensität der deutsch-israelischen Beziehungen auch von persönlichen Affinitäten ab. Helmut Schmidt fuhr nicht gern dorthin, Gerhard Schröder war in seiner Amtszeit nur ein einziges Mal in Israel. Merkel ist das andere Extrem. In ihrer Kanzlerschaft war sie nun schon zum dritten Mal in Tel Aviv. Daß ihr die deutsche Nahostpolitik nicht das Feld kühlen Abwägens, des professionellen diplomatischen Verstandes und der angemessenen Wahrung deutscher Interessen ist, das belegen ihr Reden und Handeln, sogar ihre Körpersprache, sobald das Wort „Israel“ fällt. Deutschland und Israel „dauerhaft“ miteinander zu verbinden, ist ihr nicht Verstandes-, sondern Herzensangelegenheit. Sie meint es ernst, wenn sie die Beziehungen mit Israel als „einen kostbaren Schatz, den wir hüten müssen“, bezeichnet. Zweifellos haben die Konflikte und Entwicklungen im Nahen Osten etwas Verwirrendes an sich. Viele nehmen die dortige Wirklichkeit durch einen Filter wahr, und was man sieht, hängt in hohem Maße von dem Standpunkt ab, den man wählt. Dabei können durchaus mehrere Aspekte gleichzeitig einen Teil der Realität abbilden, ohne daß sich „die Wahrheit“ bereits darin erschöpfte. Merkels Reden in Israel belegen ihre einseitige Wahrnehmung auf geradezu peinliche Weise. In ihrer Wahrnehmung ist es anscheinend ein sich ausschließlich selbst nährender Judenhaß, der den Ereignissen im Nahostkonflikt historisch und aktuell zugrunde liegt. Dieser Mythos besagt, daß der Staat Israel nur als eine Konsequenz des Holocaust zu begreifen und daß seine aktuell empfundene Gefährdung ausschließlich auf den irrationalen Haß seiner Feinde zurückzuführen ist. Die Entscheidung zur Gründung eines Judenstaats in Palästina ist aber schon 1900 unter dem Einfluß der zionistischen Bewegung entstanden und 1917 durch die britische Balfour-Erklärung Politik geworden. Das Konzept war schon damals wegen der sich ergebenden Reibungsflächen mit den arabischen Bewohnern umstritten und führte von Anfang an zu opferreichen Konsequenzen, die bis heute andauern. „Auschwitz“ hat erst später als Verstärker zur Legitimierung und Durchsetzung eines jüdischen Staates gedient. Dennoch lädt Merkel auch die Last, die sich aus dem – so ihr Parteifreund Norbert Blüm – „hemmungslosen Vernichtungskrieg“ gegen das entrechtete Volk Palästinas ergibt, auf die deutschen Schultern. Schon bei ihrer Einordnung des israelischen Libanonkriegs (2006) war ihre Parteilichkeit unangenehm aufgefallen. „Wir sind nicht neutral“, hatte sie erklärt, „wir wollen auch gar nicht neutral sein.“ Diese Einstellung hat sie jetzt zu bedenklicher Nibelungentreue zugespitzt: Vor der Knesset betonte sie, die Sicherheit des jüdischen Staates sei Teil der deutschen Staatsräson und niemals verhandelbar. Jede Bedrohung Israels sei auch eine Bedrohung Deutschlands. Das Prinzip der Staatsräson besagt, daß die Interessen des Staates über alle anderen Interessen gestellt werden können. Es handelt sich allerdings immer um den eigenen Staat, nicht um einen fremden, wie sehr man diesem durch Sympathie oder durch wirkliche oder gefühlte Pflichten verbunden sein mag. Bei Angela Merkel ist dies anders: Das israelische Volk und die deutsche „Bevölkerung“ gehören in ihrem Denken zusammen – das eine als das designierte „Opfervolk“, das andere als das stigmatisierte „Tätervolk“. Beide bedingen sich gegenseitig: ohne Täter keine Opfer! In beiden Staaten liefert ein und dieselbe Geschichte Existenzberechtigung. Aus einem solchen Zirkelschluß gibt es kein Entrinnen. Merkel im Wortlaut: „Wir haben unsere Demokratie auch auf den Lehren der Geschichte aufgebaut. Dazu gehört unverrückbar die Anerkennung der Singularität des Holocaust. Sie war und ist Voraussetzung dafür, daß wir frei und souverän sein können.“ Schon Heinrich Heine hat mit „Doppelgänger, du bleicher Geselle“ auf die Pathologie des deutsch-jüdischen Verhältnisses angespielt. Merkels „Right or wrong, my Israel“ ist dazu eine weitere Variante.