Wenn Fakten und Theorien nicht übereinstimmen, um so schlimmer für die Fakten — spottete einst Hegel. Das von der Finanzkrise geschockte Publikum (Manager- und Politikergehälter und -pensionen sind nicht bedroht) erlebt ein bizarres Schauspiel auf zwei Bühnen. Auf der Weltebene treffen sich die Mächtigen und Wichtigen, um zu beraten, wie man die aus den Fugen geratene Welt der Finanzen wieder einrenkt, letztlich auf Kosten der Allgemeinheit. Die Drohung, man werde den Schuldigen künftig stärker auf die Finger sehen, wird sie kaum erschrecken; sie haben sie sich ohnehin kräftig verbrannt. Im nationalen Theater spielt man ein anderes Stück. Wie läßt man die Leute vergessen, daß die Finanz-, Wirtschafts- und Meinungseliten bis gestern ein anderes Lied angestimmt haben als heute? Es ist atemberaubend, wie die Propheten der Lehre: „Reich macht Euch nur der Markt; der böse Staat kann immer nur (weg)nehmen und umverteilen“, nunmehr im Chorus singen: Nur noch der Staat kann uns vor Verarmung, Existenzverlust und sozialer Not retten. Als vor Ausbruch der letzten großen Weltwirtschaftskrise, vor 80 Jahren, sich ähnliches abspielte, veranlaßte dies den französischen Soziologen Julien Benda, über den „Verrat der Intellektuellen“ nachzudenken: Auch in der Demokratie blieben diese statt der Wahrheit der Herrschaft, also im Kapitalismus dem Geldadel verpflichtet — seit und trotz der Französischen Revolution. Zwar schwebt den sich auf immer neuen Foren treffenden Weltenlenkern (G-20, Financial Stability Forum und die Ratstagungen von IWF und EU) etwas Vernünftiges vor, nämlich das Chaos an den Finanzmärkten durch ein neues Weltwährungssystem zu beenden, nach Art des vor 35 Jahren ad acta gelegten von Bretton Woods, unter dessen Ägide die Nachkriegswelt wieder aufgebaut und die Drittweltstaaten in die Weltwirtschaft integriert werden konnten. Doch die Macher von heute können sich weder auf die Analysen eines John Maynard Keynes stützen, wie sie den Vätern der Bretton-Woods-Ordnung vorlagen. Noch haben sie eine Alternative zur damals (gegen den Willen Keynes) begründeten Stellung des US-Dollar als globaler Leitwährung im Köcher. Noch augenfälliger springt die Abkehr vom alten Glauben (und die mangelnde Scham darüber) bei der Lektüre des Jahresgutachtens der fünf „Wirtschaftsweisen“ ins Auge. Sie raten der Bundesregierung, an den „bewährten Prinzipien“ der Haushaltskonsolidierung festzuhalten und dennoch in Höhe von zwei Jahressteuereinnahmen (400 bis 500 Milliarden Euro) neue Schulden zur Rettung des angeschlagenen Bankensystems einzugehen. Vergessen sind die Schwüre, Kinder und Enkel nicht mit neuen Schulden zu belasten. Der Europäischen Zentralbank (EZB) schreiben sie ins Stammbuch, sie habe mit ihrer Hochzinspolitik die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte vertieft und den (bereits erkennbaren) konjunkturellen Abschwung der Euro-Länder verschärft. Wie wahr! Gleichwohl spenden sie der auf dasselbe hinauslaufenden pro- statt antizyklischen Haushaltspolitik höchstes Lob! Wenn Heerscharen von Experten, Fernsehkommentatoren und Wirtschaftsredakteuren über Nacht dem jahrzehntelang verkündeten wahren Glauben abschwören und kleinlaut zugeben, man habe sich geirrt — der Staat müsse nun doch mit Milliardensummen staatlicher Subventionen Banken, Autobranche und anderen Marktgeschädigten aus der Patsche helfen —, dann enthüllt dieser „Pragmatismus“ mehr als nur einen Mangel an Charakter, nämlich ein bestürzendes Defizit an historischer Erfahrung und analytischer Kenntnis. Es gehört zu den Aporien der modernen Gesellschaft, daß sie immer mehr Alte hervorbringt, aber nicht dafür sorgt, daß diese ihr Wissen den Jungen und Aktiven vermitteln können. Der antike Staat hatte seinen Areopag (Athen) und seine Ephoren (Sparta), in denen der Rat der Älteren die Politik der Jüngeren begleitete. In der von rasantem technischen Fortschritt und der Globalisierung getriebenen Welt von heute halten die Jungen das Erfahrungskapital der Älteren für überholt. Doch die Finanzkrise der Gegenwart bestätigt das Gegenteil: Die Lehren aus der Vorgängerkrise (von vor 80 Jahren) sind hochaktuell. Märkte versagen immer dann, wenn man den Banken zuviel Freiheit bei der Kreditschöpfung einräumt oder beläßt. Auch können per Spekulation niemals mehr Geldvermögen geschaffen werden als Einkommen durch harte Arbeit. Und: Die aus dieser „Vermögensillusion“ resultierenden Probleme können nur auf der nationalen (und demokratisch legitimierten) Ebene der Staaten gelöst werden — mögen sie auch im staatenlosen globalen Niemandsland entstanden sein. Deswegen machen Weltwirtschaftskonferenzen zur Zeit wenig Sinn, und überstaatliche Bürokratien wie IWF und EU-Kommission tragen nichts zur Lösung bei. Sie sind Statisten, keine mit Instrumenten ausgestatteten Akteure. Dies alles hätten die Jungen von den Älteren erfahren können. Ohne diesen Dialog ist jede Generation dazu verurteilt, alte Fehler zu wiederholen — und jede Krise als „neue“ zu erleben. Prof. Dr. Wilhelm Hankel war unter Karl Schiller Chef der Bank- und Versicherungsaufsicht. Er veröffentlichte zuletzt das Buch „Die Euro-Lüge und andere volkswirtschaftliche Märchen“ (Signum-Verlag, Wien 2008).