Beim Thema Geburtenmangel scheint sich endlich eine grundlegende Erkenntnis durchzusetzen: Mehr finanzielle Anreize führen nicht zu mehr Kindern. Ein solcher, zuvor gern angenommener Zusammenhang stellt sich als Schere dar, die auseinanderklafft: Deutschland hält per Geburtenquote 2005 weltweit die Rote Laterne und ist zugleich Meister in familienpolitischen Transferleistungen. Mehr Geld gleich mehr Kinder: Es klappt einfach nicht. Wacker hält sich noch die alte Hoffnung auf eine andere Gleichung, die ebenfalls nicht aufgehen wird: Je höher die Frauenerwerbsquote, desto reicher der Kindersegen. Zumal sich bereits andeutet, daß eher das Gegenteil der Fall ist (siehe die Zahl kinderloser Akademikerinnen), wird der wirkmächtige Faktor im Mentalen – und damit: im Ungefähren – gesucht: Deutschland sei eben kinderfeindlich. Jeder kennt die Meldungen und die Bilder: von den in trister Wohnblockumgebung aufgestellten Schildern mit „Spielen verboten!“-Aufschrift, den Berichten von Restaurants, die Kinder ungern dulden, bis zu jenem Gemeinplatz, daß „heutzutage“ ein kinderloses Paar mit Dogge leichter eine Wohnung finde als eine Familie mit Kindern. Einer Umfrage zufolge halten zwei Drittel der Deutschen ihre Heimat für kinderfeindlich. Doch ist dem tatsächlich so? Von der angeblichen institutionellen Kinderfeindlichkeit – was ein anderes Thema wäre – einmal abgesehen, ist man schlicht kinderentwöhnt. Ein großer Teil der 20- bis 40jährigen hat keinen Kontakt zu Kindern, weder durch Verwandtschaft noch Freundeskreis. Dem gilt es abzuhelfen. Klar, als Mutter kennt man dies: Das Stehen mit einer Handvoll kleiner Kinder samt Koffern an der Treppe des aufzuglosen Bahnhof, und das Volk hastet blick- und fraglos vorüber. Den Blick der Kassiererin, wenn der hilfreiche kleine Miteinkäufer die Nudelpackungen im Eifer über statt auf das Band wirft. Die unverhohlene Mißbilligung des Arztes, wenn zur Blutabnahme das Kind mitgebracht wird: Ja, es ist artig, das sehe ich, aber krank sind doch Sie! Aber man kennt eben auch das andere: die Familie am Nachbartisch, deren Nachwuchs die bunten Servietten der – zunächst wohlwollenden – Umgebung erbeutet, dann die Schirmchen auf dem Eis und schließlich auch die dem Kaffee beigelegten Waffeln einfordert. Die nun ablehnende Antwort der Mitgäste wird vom Elternpaar mit eisigem Kopfschütteln quittiert. Bedeutung: Typisch deutsch, diese Kinderhasser! Man kennt die Mutter, die vor Zorn fast kollabiert darüber, daß nur Erdgeschoß und zweiter Stock des Amtsgebäudes über eine ausgewiesene Wickelgelegenheit verfügen. Den forschen Vater, der murrenden Gottesdienstbesuchern angesichts seines über Bänke turnenden Sohnes bescheidet: „Kirche braucht Bewegung!“ Kinder zu haben sollte als natürlich gelten, ihre bisweilen lärmende Präsenz gehört dazu. Erziehung ist das kulturelle Gebot, das den Eltern obliegt und in gegebenem Fall auch von der Mitwelt ergänzt werden darf: Wo liegt das Problem, wenn der Rentner im Bus das fremde Kind darauf hinweist, daß Schuhe nicht auf den Sitz gehören? In einer kinderfeindlichen Haltung oder in der halsstarrigen „Mischen Sie sich nicht ein“-Antwort der Mutter, die freilich nicht argusäugige Leibwache des Sprößlings sein muß? So wäre die Erziehungsaufgabe junger Eltern als eine doppelte aufzufassen: Grenzen setzen im Eigenen, Grenzen akzeptieren beim anderen, wo es höflich erscheint, sie aber auch durchbrechen, wo es angemessen ist. Heißt etwa: Kindergetobe in Kaufhaus und Wartezimmer – nein. Im Park – ja, selbst wenn das Tai-Chi-Pärchen auf der Wiese gerade nach Konzentration heischt. Ein an der Brust gestillter Säugling im Hörsaal muß akzeptabel sein, eine Kinderpoposäuberung oder ein quirliges Anderthalbjähriges nicht. Wenn die Kartenverkäuferin in der Oper bemerkt, mit kleineren Kindern im Konzert habe man schlechte Erfahrungen gemacht, ist dies keine Kinderfeindlichkeit, sondern ein Abwägen im Interesse des Restpublikums. Es liegt im Ermessen der Eltern, das ebenfalls erfahrungsbegründete Gegenteil zu beweisen (die Zusprüche hernach werden reichlich sein) oder beizeiten und ohne Grimm einzugestehen, daß Konzentration und Interesse des Nachwuchses eben dafür noch nicht hinreichen. Das Klischee der kinderfeindlichen Gesellschaft ist bisweilen zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden. Darum fällt es Eltern so schwer, selbstbewußt mit Kindern öffentlichen Raum zu beanspruchen und Hilfe einzufordern, ohne dreist zu erscheinen. Das kann man lernen. Beispielaufgaben gibt es zur Genüge, sie dürfen den Alltag prägen und werden schnell zu dem, was sie auch sein sollten – zu einer Selbstverständlichkeit, die bald keine besondere Überwindung erfordert. Die Kurzbetreuung eines kleinen Kindes, freundlich erbeten, wird von niemandem abgelehnt werden; eventuell wird es länger dauern, den Sprößling aus der Obhut zu lösen, als es brauchte, ihn dorthin zu delegieren. Sie sind nicht halb so mies wie ihr Ruf, unsere kinderlosen Mitbürger. Man muß es ihnen nur beizubringen wissen.
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