Falls es Angela Merkel tatsächlich gelungen ist, bei ihrem Besuch in Warschau einige der Scherben zu kitten, die ihr Amtsvorgänger mit seiner unausgegorenen und Putin-fixierten Außenpolitik in Ostmitteleuropa angerichtet hat, wäre das erfreulich. Ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin rückt deswegen nicht näher. Es kommt nicht so sehr darauf an, welche Meinung Merkel selbst zu dem Projekt hat, sondern auf die innenpolitischen Verhältnisse, in denen sie agiert. Die SPD-Abgeordneten Markus Meckel und Wolfgang Thierse haben erklärt, ein Zentrum in Berlin sei mit der SPD nicht zu machen. Man muß hinzufügen: Und gegen sie schon gar nicht! Die letzte wirkliche Chance für den Bund der Vertriebenen (BdV), eine entsprechende Einrichtung zu realisieren, bestand 1990, als Helmut Kohl fürchtete, die Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze würde zur Etablierung einer deutschen Rechtspartei führen. Kohl besaß auch genügend Geschichtsgefühl, um zu begreifen, daß 16 Millionen Vertriebene, zwei Millionen Tote und der Verlust eines Viertels des Staats- und weiterer Siedlungsgebiete für Deutschland ein zentrales Ereignis war, das deshalb an zentraler Stelle gewürdigt werden mußte. Der Preis für den Vertriebenenverband wäre der Verzicht auf die juristisch plausible, politisch aber aussichtslose Verfassungsklage gegen das im Einigungsvertrag enthaltene Junktim zwischen der Vereinigung von BRD und DDR und der Abschreibung Ostdeutschlands gewesen, die mehrere Abgeordnete, unter ihnen der damalige BdV-Präsident Herbert Czaja, angestrengt hatten. In einer Atmosphäre nationaler Rührung hätten sogar die Sozialdemokraten Beifall geklatscht zu einem Vertriebenenzentrum. Jetzt stößt sich der Abgeordnete Meckel in einem Rundfunkinterview daran, daß „sozusagen diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg, die den Holocaust gemacht haben, die Millionen Polen umgebracht haben, die einen Vernichtungskrieg geführt haben, daß wir plötzlich uns als Opfer darstellen wollen“. Dieser Primitivismus reicht aus, um in einer altehrwürdigen Volkspartei als Experte für Geschichte und Außenpolitik zu reüssieren! Weil es in den anderen Parteien kaum besser, vielfach noch schlechter aussieht, wird es wohl auf eine „europäische Lösung“ hinauslaufen. Ginge es tatsächlich um den „europäischen Geist“ und um eine Vernetzung mit internationalen Einrichtungen, wäre es überflüssig, ja unlogisch, „Europa“ als Alternative zu einer nationalen Einrichtung in Berlin ins Spiel zu bringen. Denn jedes historische Projekt, das zwar nicht standpunktlos ist, jedoch auf nationale Selbstüberhebung und Fremdanklage verzichtet, ist damit ein Baustein für ein gemeinsames europäisches Bewußtsein. Grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Museen, Archiven und wissenschaftlichen Einrichtungen gehören ohnehin längst zur Normalität. Doch darum geht es überhaupt nicht. Vielmehr soll das Dogma, wonach die neuere europäische Geschichte sozusagen mit einem nationalsozialistischen Urknall begonnen hat, kanonisiert, zementiert und institutionalisiert werden – das damit über die deutschen Opfer verhängte Trauerverbot inklusive. Der von einer rechtsnationalistischen Koalition gestützte polnische Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz hat in der FAZ seine Ablehnung des Zentrums mit der Forderung an Deutschland verbunden, auf das Wort „Vertreibung“ zu verzichten. Seine Ankündigung, im Gegenzug „die Wahrheit auf den Tisch“ zu bringen, weil es besser sei, „schmerzhafte Fragen zu klären, als süße Lügen zu verbreiten“, darf man indessen begrüßen. Denn wenn eines Tages die Historiker tatsächlich darangehen, unzensiert, ergebnisoffen und unverblendet von scholastischen Dogmen sich mit der Vor- und Zwischenkriegsgeschichte zu beschäftigen, und im Sinne Rankes darstellen, wie es gewesen ist, wird von der Urknall-Theorie wohl nicht viel übrigbleiben und auch Polen nicht mehr als die Unschuld vom Lande dastehen. Marcinkiewicz‘ Ankündigung, in der längst erledigten Frage der Kriegsreparationen „von vorne anzufangen“, ist eine typische Retourkutsche und ein Beleg, daß ihre Dauerzerknirschung die Deutschen im Ausland weder vertrauenswürdig noch respektabel, sondern zum dummen August macht, auf dessen Freigebigkeit alle Welt einen natürlichen Anspruch zu haben glaubt. Inzwischen ist ein Punkt erreicht, an dem die politische und historische Argumentation sinnlos erscheint und die Debatten nur noch verdienen, als Bestätigung des heimgekehrten Emigranten und Kriminologen Hans von Hentig festgehalten zu werden, der 1966 in dem Buch „Die Besiegten“ über das Verhalten der Deutschen nach 1945 schrieb: „Die Not bricht Eisen und der Krieg die Treue und den Stolz. Erbarmungsloser Lehrer auf dem Feld menschlicher Schwächen ist die Niederlage.“ Auf diesem Feld wachsen Kleinmut, Gemeinheit, Mittelmaß, nur eines nicht: der „Mut zur Freiheit“, den Kanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung gefordert hat. Ein Zentrum gegen Vertreibungen hätte über die Niederlage hinausgewiesen. Die Deutschen sorgen selbst dafür, daß es dazu nicht kommt.