Die Bundesregierung nimmt das Tempo aus der von ihr auf den Weg gebrachten Modernisierung unseres Gemeinwesens. So scheint, entgegen der ursprünglichen Planung, der Zahnersatz vorerst im Leistungskatalog der Krankenkassen zu verbleiben, und eine Reform der Pflegeversicherung wird in dieser Legislaturperiode wohl ebenfalls nicht mehr auf die Tagesordnung gesetzt. Auch das Konzept einer Bürgerversicherung soll zunächst bloß diskutiert werden, um es, wenn überhaupt, erst nach der nächsten Bundestagswahl umzusetzen. Unionsnahe Einpeitscher beeilen sich nun, in die von der Regierung avisierte Reformpause eine gewisse Ratlosigkeit und das Eingeständnis der eigenen Durchsetzungsschwäche hineinzuinterpretieren. Derartige Invektiven sind jedoch so durchsichtig wie deplaziert. Man kann im Gegenteil vielmehr erkennen, daß der Kanzler fest entschlossen ist, sich durch nichts und niemanden unter Druck setzen zu lassen – auch nicht durch eine Erwartungshaltung, die man womöglich selbst erzeugt hätte. Nahezu allen in unserem Land ist bewußt, daß der Sozialstaat, wie wir ihn bisher kennen, ein Auslaufmodell darstellt und die öffentliche Hand die Bürger nicht mehr gängeln kann, sondern sie peu à peu in die Eigenverantwortung entlassen muß. Diese Einsicht einer breiten Öffentlichkeit wurde von der Bundesregierung jedoch voreilig als Legitimation für eine aktive Reformpolitik mißverstanden. Sie hat nämlich übersehen, daß die Menschen dem Staat überhaupt nicht mehr zutrauen, die drängenden Probleme unserer Zeit zu lösen. Welche Reform auch immer in Angriff genommen wird: Impulse für Wachstum und Beschäftigung sind nicht zu erwarten. Die demographische Entwicklung, die die bisherigen Sozialversicherungssysteme unterminiert, ist das Ergebnis freier Entscheidungen der Bürger in ihrer Gesamtheit und durch die Politik nicht zu beeinflussen. Zur Debatte steht lediglich, ob diejenigen, die aufgrund ihres Vermögens über größeren Einfluß im öffentlichen Leben verfügen, dieses nicht endlich einmal auch gegen all die Heerscharen der Almosenempfänger mit Wahlrecht in zählbare Erfolge sollten ummünzen dürfen. Dieser Maxime folgten die bisherigen Reformschritte, und wie zu befürchten war, haben die Massen Lunte gerochen. Desillusioniert registriert die Berliner Koalition, daß sie plötzlich an einem Paradoxon zu scheitern droht, das seit jeher die liberale Demokratie kennzeichnet: Die Regierung soll die Interessen der Besitzenden wahren und zugleich die Zustimmung der Habenichtse ernten. Dem Dilemma versucht sich das Kabinett Schröder nun durch demonstratives Nichtstun zu entziehen. Etwaigen Vorwürfen, es würde seine Hausaufgaben nicht erledigen, vermag es mit einem klassischen marktwirtschaftlichen Argument zu begegnen: Wenn es tatsächlich stimmt, daß der Staat durch seine Eingriffe letztlich nur Unordnung stiftet, ist Tiefschlaf die beste Politik.
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