Auf den vorherigen Beitrag habe ich einige Reaktionen und Zuschriften erhalten, verbunden manchmal mit der Frage, was im Einzelfall zu tun sei. Dabei haben sich wieder jene Probleme gezeigt, die eine Verfolgung der Taten von deutschen Kriegsgegnern seit 1945 immer schwer gemacht haben.
Da ist zunächst einmal die Anonymität. Durchziehende Soldatentrupps in irgendeiner Uniform, die für deutsche Zivilisten keiner bestimmten Einheit zuzuordnen waren, geschweige denn namentlich bekannt wurden, sind nun einmal schwer zu ermitteln. Das gilt selbst dann, wenn man das will – zumal wenn man der bisher geltenden Rechtssprechung folgt, wonach individuelle Schuld nachgewiesen werden muß.
An eben diesem Willen und der nötigen Kraft fehlte es offenbar häufig sowohl den betroffenen Zivilisten als auch den bundesdeutschen Behörden. Zivilisten waren häufig von den Erlebnissen traumatisiert und redeten nicht darüber. Sie gingen schweigend an den Wiederaufbau, der dann durch einsetzendes Wirtschaftswunder und die völlige Veränderung der Bedingungen obendrein die Weitergabe des Erlebten an Jüngere weitgehend blockierte. Die 68er-Generation machte innerfamiliär eigentlich völlig „dicht“. Gelegentlich hört man von Psychologen über ältere Patienten, die jetzt wenigstens mit ihnen reden können und wollen, aber auch dann manchmal eher auf Fassungslosigkeit treffen als auf Hilfe.
Bonn bekam schnell kalte Füße
Die Behörden gaben sich offenbar insofern Mühe, als tatsächlich angezeigte Verbrechen zunächst einmal wenigstens zur Kenntnis genommen wurden. In der Regel wurden Ermittlungen eingestellt, weil – siehe oben – die Angaben zu vage waren, oder auch wegen der rechtlichen Hindernisse der Kontrollratserlasse. Dazu kam der bis 1989/90 berechtigte Einwand, daß hinter dem Eisernen Vorhang, in Polen, der Tschechoslowakei oder in Jugoslawien keine Ermittlung möglich war, auch keine Auslieferung.
Daß es aber zudem an der nötigen Kraft fehlte, zeigte sich dann in genau jener Verjährungsdebatte über NS-Verbrechen, die in den 60er Jahren die BRD teilweise in Atem hielt. Der Historiker Manfred Kittel hat 2006 darüber in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte einen interessanten, auch im Netz einsehbaren Beitrag geschrieben (S. 173-207). Zeitweise wurde zum Beispiel über die Einrichtung einer zentralen Erfassungsstelle für Vertreibungsverbrechen nachgedacht, analog zur Ludwigsburger Einrichtung für NS-Verbrechen. Das hätte die Erfassung und Dokumentation der Verbrechen und eine spätere Verfolgung möglich werden lassen.
Gerade diese Analogie führte aber offenbar dazu, daß das gesamte Bonner Politpersonal schnell kalte Füße bekam. Natürlich gab es auch offenen ausländischen Druck, aber vor allem der innerdeutsche Dialog äußerte sich, so weit es die Presse und das Parlament betraf, in unnötigem, menschlich wie juristisch indiskutablem Schweigen. Gelegentlich trat statt dessen offene Aggression gegen die Vertriebenen auf den Plan, weil sie den Rechtsfrieden durch die Verfolgung von Mord und Totschlag wiederhergestellt sehen wollten. „Aufrechnungsgefahr“ wurde an die Wand gemalt. Von staatstragenden Philosophen wie Karl Jaspers wurde an prominenter Stelle die Ansicht vertreten, Mord sei eben doch nicht gleich Mord, wenn er an Ostdeutschen stattgefunden habe. Hatten die „Konservativen“ in der CDU zunächst noch Zustimmung zur Zentralstelle signalisiert, so schwiegen sie, als Reden nötig gewesen wäre.
Wenn man wollte, wäre viel möglich
Für Manfred Kittel ist klar, daß „eine schwere, irreparable Schädigung der Rechtskultur (vorliegt), weil Hunderttausende Fälle von Mord und Totschlag, sowie weitere schwere Verbrechen, unter den Opfern auch ein großer Teil Kinder und Jugendliche, nicht gesühnt wurden“. Das trifft zu und ist doch nicht die ganze Wahrheit. Noch jetzt wäre ein Teil der Rechtskultur zu retten, wenn die BRD sich für ihre Fehler entschuldigen würde und noch ermitteln ließe, was jetzt zu ermitteln ist. Vielleicht öffnet die neue Rechtsauffassung tatsächlich eine Chance, die Republik auf diesen Weg zu schubsen. Der Einzelfall muß geprüft werden.