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Es muß ermittelt werden

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Weißmann, Reich, Republik, Nachkriegsrechte

Wieder hört man von der Verhaftung eines Greises. Dem 93-jährigen Hans Lipschis wird vorgeworfen, sich durch seine bloße Anwesenheit im Konzentrationslager Auschwitz an Verbrechen mitschuldig gemacht zu haben. Einen konkreteren Tatvorwurf gibt es nicht, weshalb der Mann in den vergangenen Jahrzehnten trotz der Kenntnis seiner Biographie auch noch nicht angeklagt wurde. Erst die neue Rechtsprechung seit dem Fall Demjanjuk macht dies möglich, denn nun gilt eben die bloße Anwesenheit an Tatorten bereits als Verurteilungsgrund. Der Ludwigsburger Staatsanwalt Kurt Schrimm hat diese Rechtsauffassung maßgeblich mit entwickelt und diese Woche in der Süddeutschen Zeitung ausgiebig erläutert.

Ob diese Auffassung vor dem Bundesgerichtshof letztlich Bestand haben wird, ist zweifelhaft. Das räumt er ein, aber: „Dieses Risiko gehen wir ein.“ In jedem Fall habe der Staatsanwalt gar keine Wahl. Wenn unverjährbarer Mord vorliegt, muß ermittelt werden. Von etwa fünfzig weiteren Fällen allein für Auschwitz ist die Rede.

Es scheint nicht unmöglich, daß diese Rechtsauffassung auch Wirkungen in ganz andere Richtungen entfalten wird. Bekanntlich hat sich die Bundesrepublik Deutschland niemals um die Ermittlung oder gar effektive Strafverfolgung jener gigantischen Welle an Kapitalverbrechen bemüht, die 1945 und danach als Begleiterscheinung des Einmarschs der alliierten Streitkräfte in Deutschland begangen wurden. Genaue Zahlen sind noch heute nicht bekannt. Von wenigstens mehreren hunderttausend Todesfällen, in denen man niedere Motive, Mord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vermuten kann, darf wohl ausgegangen werden.

Nehmen wir Berlin

Natürlich war es immer politisch inopportun und auch faktisch schwer, die Täter zu ermitteln. Nun stehen hier ganz andere Wege offen. Nehmen wir den Fall Berlin. Bert Brecht hat geschildert, was 1945 geschah:

„immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. … nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden frauen und männer nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw.“

Nach der neuen Rechtsprechung, sollte sie Bestand haben, ist möglicherweise jeder Rotarmist, der hier 1945 „anwesend“ war und um dieses organisierte, vielfach tödliche und von der sowjetischen Staatsführung geduldete Geschehen wußte, ein Verbrecher. Das gilt natürlich auch für alle anderen Orte, an denen solches geschehen ist. Wenn Sie also 1945 oder danach als Folge des Einmarschs des alliierten Militärs Verwandte verloren haben oder von mörderischen Verbrechen an Personen Kenntnis haben, dann sollten Sie dies jetzt zur Anzeige bringen. Mord verjährt nicht. Es muß ermittelt werden.

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