Manchmal entwickeln die Nebenfiguren berühmter Dramen eine Eigendynamik: Sie wachsen und wachsen, weit über den Statistenrang hinaus. Ihre Vielschichtigkeit weckt den Wunsch, das Geschehen aus ihrer Perspektive nachzuerzählen oder sie aus der ursprünglichen Geschichte zu entlassen und in andere Zusammenhänge zu verpflanzen.
Oft genug avancieren sie dabei zur Hauptfigur neuer Werke. Vor allem die Nebenfiguren William Shakespeares sind bei diesem Transferprozeß überdurchschnittlich häufig vertreten. So wurde der Rüpel Zettel aus dem „Sommernachtstraum“ zum Titelhelden von Arno Schmidts Roman „Zettels Traum“.
Das Feen-Paar Titania und Oberon – um beim „Sommernachtstraum“ zu bleiben – zog ins kalte Berlin der frühen 1980er Jahre und entdeckte die Liebesunfähigkeit moderner Bundesbürger: So wollte es Botho Strauß in „Der Park“ (1984). Aber Spitzenreiterin ist eindeutig Ophelia, die das Pech hatte, sich ausgerechnet in Hamlet zu verlieben.
Kopf im Gasherd
Je weniger Shakespeare über seine Heldin preisgibt – ihre unerwiderte Liebe, der Ausbruch des Wahnsinns und das Ertrinken im Fluß –, desto mehr erlaubt sich die Phantasie: Im Drama bleibt zum Beispiel offen, ob Ophelias Ertrinken ein Unfall oder Selbstmord war. Gerade weil die schrecklichste Wahrheit nur angedeutet wird, muß der Leser sie nicht abwehren. So verkörpert die zurückgewiesene Ophelia seitdem den abendländischen Liebestod.
All das Ungesagte, zwischen den Zeilen Verborgene, schreit zwanghaft nach „Klärung“, nach Wiederverkörperung für jede Generation. So heißt es etwa im „Ophelia“-Gedicht des Dichters Georg Heym, der 1912 im Alter von 25 Jahren im Berliner Wannsee ertrank: „Der Strom trägt weit sie fort, die untertaucht, / Durch manchen Winters trauervollen Port. / Die Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort, / Davon der Horizont wie Feuer raucht.“
Arthur Rimbaud und die geheimnisvolle Dichterin Danielle Sarréra erkannten, daß „Ophelias Wahnsinn so sanft“ war, während der Dramatiker Heiner Müller sie „unsanft“ durch die „Hamletmaschine“ drehte, als Frau mit dem Kopf im Gasherd und aufgeschnittenen Pulsadern präsentierte. – Dies war eine Anspielung auf die zahlreichen Selbstmordversuche seiner damaligen Ehefrau Inge.
Ewige Ruhe verdient
In allen diesen Bearbeitungen hat Ophelia den Boden des Shakespeare-Dramas verlassen und bewegt sich in einem irrealen, zeitlosen Raum – so auch in Maike Möllers Monodrama „Ophelia Cataclysm“. Wie in Tom Stoppards Drama „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“, das die beiden Höflinge aus „Hamlet“ im Totenreich zeigt, hat Möller das Jenseits zum Schauplatz gewählt.
Nach ihrem Selbstmord muß sich Ophelia gegenüber Gott rechtfertigen. Der aber scheint sie nicht zu verstehen, erweist sich als kafkaesker Bürokrat. Schließlich macht die Verzweifelte „Schluß mit dem Gottesgericht“: Sie durchwühlt, durchtanzt die Grabkammern des Weltenhauses. Auf der „Schlachtbank der Geschichte“ (Hegel) sucht sie ihren zerstörten Körper und die verlorene Liebe. Wie gesagt: Ihr Wahnsinn war so sanft.
Die Schauspielerin und Tänzerin Maike Möller stemmt ihre rasende Ophelia-Tour-de-force schon seit Jahren in unterschiedlichen Theatern. Am 15. Juli tritt sie aber zum letzten Mal auf, um 20.30 Uhr im Berline „Theater im Schokohof“ (Ackerstraße 169/170).
Da die Akteurin ihr Stück bisher in immer neuen Varianten aufführte, bleibt zu hoffen, daß Ophelia diesmal wirklich zur ewigen Ruhe gelangt. Nach gut vierhundert Jahren hätte sie es verdient.