Es handelt sich wahrscheinlich um das am häufigsten reproduzierte Filmplakat überhaupt: das Mädchen aus „Metropolis“ im Glassarg, blau und grün schattiert, die Augen sinnlich geschlossen, der Mund rot pointiert, auf dem Kopf ein Helm, der Assoziationen an die Bubikopffrisur der Entstehungszeit oder an Astronautenhelme weckt. Das Original ist unbezahlbar, aber seit den achtziger Jahren hängt es im Großformat oder wenig kleiner in den Wohnungen vieler, auch von Menschen, die Fritz Langs Film niemals gesehen haben.
Es ist angesichts dieses Bekanntheitsgrades bemerkenswert, daß man über den Schöpfer des Plakats fast nichts weiß. Er hieß Werner Graul, von seinen Lebensdaten ist nur der Zeitpunkt der Geburt – der 18. Oktober 1905 – bekannt. Als junger Mann von einundzwanzig Jahren schuf er sein berühmtestes Werk. Unter den zahlreichen Plakaten, die für „Metropolis“ angefertigt wurden, hat vor allem sein Entwurf überdauert, wurde für den Umschlag der Buchvorlage Thea von Harbous ebenso verwendet wie für das UFA-Magazin, das zur Premiere herauskam. Die außerordentliche Bekanntheit des Motivs war auch darauf zurückzuführen, daß die UFA seit 1927 ein Konzept von corporate identity durchsetzte, das alle Kinobesitzer zwang, die vorgefertigten Plakate auszuhängen.
Der Erfolg muß für Graul überraschend gekommen sein. Vorangegangen waren eine triste Kindheit und Jugend in zerrütteter Familie: der Vater Ingenieur, die dominante Mutter, die ihren Sohn verachtete. Graul war nach eigener Aussage ein miserabler Schüler, verließ das Gymnasium mitten im Ersten Weltkrieg und nahm in seiner Heimatstadt Berlin eine Ausbildung als Maler und Graphiker auf. Zu seinen Lehrern gehörte der berühmte Eugen Spiro, seit 1915 Präsident der Berliner Secession und Professor an der dortigen Kunsthochschule.
Graul hat allerdings keinen akademischen Abschluß erworben und sah sich in der Zeit des Zusammenbruchs und der Inflation gezwungen, seine Fähigkeiten schnell praktisch anzuwenden. Damals erlebte der deutsche Film einen großen Aufschwung, und Graul begann Werbung und Plakate zu zeichnen. Angesichts des hohen Tempos, mit dem internationale wie deutsche Produktionen auf den Markt kamen, bot das zumindest ein sicheres Einkommen.
Bemerkenswert ist das zwar gefällige, aber doch erkennbar avantgardistische Element in vielen seiner Entwürfe, das auch bei seinem „Metropolis“-Plakat zum Tragen kam. Den ersten großen Erfolg konnte er allerdings nicht wiederholen. Das hatte möglicherweise damit zu tun, daß er seinen Stil in eine unerwartete Richtung weiterentwickelte, auf Farbe zunehmend verzichtete und die zur Geltung kommenden Teile der Bildkomposition immer stärker reduzierte.
In einem Plakat für Charlie Chaplins „Circus“ (1927) dominierten etwa schwarze Flächen auf weißem Untergrund, ohne Schattierung oder Zugeständnisse an einen fotografischen Realismus. Die künstlerische Entwicklung, die sich hier andeutete, kam bei Graul aber erst in den dreißiger Jahren vollständig zum Durchbruch. Auch Zugeständnisse an den expressionistischen Zeitgeschmack, die bis dahin noch zu bemerken waren, verschwanden ganz.
Was ihn dazu brachte, sein bisheriges Tätigkeitsfeld aufzugeben, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Berlin zu verlassen und sich an einen Mecklenburger See zurückzuziehen, gehört auch zu den Unklarheiten in diesem Lebenslauf. Vielleicht waren es lebensreformerische Vorstellungen, politische Opposition war es jedenfalls nicht. 1934 erging Grauls „Aufruf – Deutsche, die sich in innerster Überzeugung zu keiner christlichen Konfession mehr bekennen, helft im artgemäßen Glauben an der Wahrung und Gestaltung neuer Weltanschauung!“ Damit verbunden war nicht nur ein Bekenntnis zum neuen Regime, sondern auch zur völkischen Religiosität.
Graul arbeitete in der folgenden Zeit vor allem für den Wölund- und den Sigrune-Verlag in Erfurt, deren programmatische Namen für sich sprechen. Er entwarf Umschläge, illustrierte verschiedene Bücher und fertigte zwei großformatige Bände – „Golgatha des Nordens“ sowie „Hexen, Ketzer, Heilige“ (beide 1937) – an, die er auch mit Texten versah und in denen seine kirchenfeindliche, dezidiert heidnische Position zum Ausdruck kam.
Die Themen seiner Bilder waren konventionell, aber die Art der Darstellung entsprach eigentlich nicht dem, was in völkischen Kreisen bevorzugt wurde. Im Sinne der schon früher erkennbaren Tendenz hatte Graul die Ausdrucksmittel immer weiter beschränkt und alles in ein Widerspiel von Schwarz und Weiß verwandelt. Einige Darstellungen, die auf diese Weise entstanden, sind von großer Ausdruckskraft, trotzdem scheint der Verbreitungsgrad gering gewesen zu sein. Die „Nordische Glaubensbewegung“ hat Klebemarken und Postkarten mit Motiven aus den Büchern von Graul verwendet, aber dabei blieb es. Ein Grund für die Zurückhaltung der größeren neuheidnischen Verbände mag auch die Neigung Grauls zu verstiegenen Sondertheorien gewesen sein.
Von weiteren Arbeiten Grauls in dieser Zeit ist nichts bekannt. Allerdings fertigte er 1937 für den Schwarzhäupter-Verlag in Leipzig den Umschlag zu Otto Rahns Buch „Luzifers Hofgesind“, dessen Motiv einen steil ansteigenden Berg in Rot und Schwarz zeigte. Bemerkenswerterweise war hier der Purismus aufgegeben und eine Farbigkeit der Gestaltung wieder aufgenommen, die in den vorangegangenen Jahren keine Rolle mehr gespielt hatte.
Die Erwähnung des Buches selbst ist kaum wegen seines begrenzten Erfolgs von Interesse, aber der Inhalt machte den „Reichsführer SS“ Himmler auf den Verfasser Rahn aufmerksam. Rahn hatte Jahre zuvor mit seinem Buch „Kreuzzug gegen den Gral“ eine Art Bestseller geschrieben, der nicht nur die esoterisch Interessierten, sondern auch ein breiteres Publikum ansprach. Vieles in seiner Deutung der europäischen Glaubensgeschichte kam den religiösen und okkulten Ideen Himmlers entgegen, und der war von „Luzifers Hofgesind“ so begeistert, daß er einhundert Exemplare bestellen und mehrere Luxusausgaben anfertigen ließ. Eine davon wurde Hitler als Himmlers persönliches Geburtstagsgeschenk überreicht.
Zurück zu Graul: Während des Krieges hatte er bei der Bauleitung der Luftwaffen-Erprobungsstelle in Rechlin gearbeitet, Geländekarten und Lagepläne gezeichnet. Vor der heranrückenden Sowjetarmee floh er nach Westen und erreichte Hamburg. Er nahm unter beengten Verhältnissen seine Tätigkeit als Gebrauchsgraphiker wieder auf, fand aber Mitte der fünfziger Jahre ein Betätigungsfeld, das seinen Neigungen stärker entgegenkam. Nachdem wieder Gold gehandelt wurde und vor allem in bürgerlichen Kreisen der Bundesrepublik das Bedürfnis nach Sicherung des neuen Wohlstands um sich griff, schuf Graul (vielleicht in Anlehnung an die Frei-Geld-Theorie Silvio Gesells) eine Art Parallelwährung auf Basis des Edelmetalls. Der nach dem Vorbild einer antiken römischen Goldmünze geprägte „Aureus“ war zwar kein offizielles Zahlungsmittel, wurde aber von verschiedenen Banken wegen seines Gewichts und Reinheitsgehalts als Geldanlage empfohlen.
In dieser Tätigkeit hat Graul freilich nicht nur einen Broterwerb gesehen, sondern sie auch als Möglichkeit verstanden, seine – mittlerweile gemäßigte und abgewandelte – Weltanschauung weiterzuverfolgen. Bis zum Beginn der achtziger Jahre schuf er mehrere hundert Entwürfe für den „Aureus“ und andere Medaillen. Danach verliert sich seine Spur, wann er verstarb, ist nicht bekannt.
Fotos: „Metropolis“-Filmplakat von Werner Graul: Avantgardistisch, Werner Graul, gemalt von Werner Kies: Seine Spur verliert sich, Rahn-Buch mit Umschlag von Graul: Okkulte Ideen