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Info-Metastasen

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„Unaufhörliches Wachstum nennt man Krebs, und das wollen wir doch nicht haben.“ „Wir“ sind in diesem Fall Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und die Administratoren seiner Online-Enzyklopädie, die seit 2001 jedoch selbst ein beachtliches Wachstum hingelegt hat: Mittlerweile enthält die englischsprachige Wikipedia mehr als drei Millionen Artikel, die deutschsprachige Version überschritt, als zweitgrößte, vor kurzem die Grenze zu einer Million, und die Seite lag 2009 an sechster Stelle der weltweit am häufigsten besuchten Internetseiten.

Angesichts solcher Zahlen ist nicht verwunderlich, daß um die Aufnahme neuer Artikel oder deren Ausformulierung im Detail erbitterte „edit wars“ geführt werden – und zwar nicht nur wegen der Publicity-Sucht von Möchtegern-Zelebritäten, sondern auch wegen der Deutungshoheit über politische Begriffe.

Wikipedia selbst gibt sich als „freie Enzyklopädie“, an der jeder mitwirken könne, strikt neutral, hat aber doch genau definierte Relevanz- und Qualitätskriterien aufgestellt. Dennoch wundert man sich bei vielen Artikeln über Stil und Informationsgehalt, Aufnahmen oder Löschungen, sowie insbesondere über die naive Selbstverständlichkeit, mit der heute aus Wikipedia zitiert wird.

„Basisdemokratischer“ Anspruch

Die Kritik an Wikipedia hat sehr verschiedene Stoßrichtungen; so kann man einerseits mehr Selektion und Auswahl verlangen, andererseits aber auch monieren, daß sich die Online-Enzyklopädie von ihrem „basisdemokratischen“ Anspruch entfernt habe.

Letzteres beklagt Ante „Antony“ Saravanja, der Ende 2009 in Hausen das Alternativprojekt Pluspedia gegründet und am 14. Januar in einem Interview mit dem Deutschlandradio Kultur vorgestellt hat: „Eine gewisse Administratorenelite“ habe sich bei Wikipedia ausgebildet, und für die Zukunft bestünde die Gefahr, daß „andere Meinungen da keinen Platz finden werden“. Sein Online-Lexikon verfolge daher das Ziel, „diejenigen Artikel zu präsentieren, die von Wikipedia gelöscht werden und/oder nicht relevant genug für die Wikipedia sind“.

Das klingt verdammt nach Infoschrott – und es ist auch Infoschrott: „Genug Platz für Irrelevanz“ lautet das Motto von Pluspedia. Dennoch will Pluspedia nicht einfach nur der Mülleimer von Wikipedia sein, oder, um im Bilde von Jimmy Wales zu bleiben, ein Haufen herausgeschnittener Text-Metastasen, sondern vertritt durchaus etwas wie einen politischen Anspruch.

Das oft mißverstandene und aus dem Zusammenhang gerissene Diktum von Joseph Beuys, daß jeder Mensch ein Künstler sei, wird von Saravanja individual-anarchistisch unterboten: „Ich meine, jeder Mensch hat seine eigene Relevanz und seine eigenen Relevanzkriterien, und ich sage jetzt einfach mal: Mein Beispiel ist die Realschule Baden-Baden.“ Oder: „Warum reicht nicht eine Ein-Mann-GmbH, die sich selber für wichtig genug hält, einen Platz in einer Enzyklopädie zu haben?“

Arroganz einer selbsternannten Info-Elite

Wozu braucht man dann überhaupt eine Enzyklopädie, kann man sich nun fragen, reicht es denn nicht, wenn sich jeder im Internet über sich selbst und alles andere ausläßt?

Ganz aus der Relevanzschlinge herauswinden kann sich Saravanja doch nicht; auf seiner „Pinnwand“ unterscheidet er immerhin noch verschiedene Arten von bei Wikipedia ausgesondertem Müll, nämlich „lesenswerten“, „grenzwertigen“ und „Rubbish“, der zum Beispiel aus finger-gymnastisch getippten Buchstabenfolgen besteht und doch für des Anpinnens würdig befunden wurde; und dann gibt es sogar, wie stolz verkündet wird, die – allerdings noch dürftig bestückte – Kategorie der originären, also nicht aus dem Wikipedia-Auswurf zusammengeklaubten Artikel, „die bereits eine gewisse Qualität erreicht haben“. Es ist sicher nur Zufall, daß viele von ihnen derzeit Pilze behandeln: etwa den Butterröhrling, den Kahlen Krempling, den Purpurfilzigen Holzritterling oder den Kirschroten Speitäubling.

Dabei hat Saravanja einen wichtigen Punkt bemerkt: Es gibt, von Jux und Trash abgesehen, durchaus Artikel, deren Nichtaufnahme bei Wikipedia schwer nachvollziehbar ist – etwa „Protestwähler“ und „Protestpartei“, um nur zwei Beispiele zu nennen –, und die Arroganz einer selbsternannten Info-Elite, deren Privileg in erster Linie darin besteht, viel Zeit zu haben, ist in der Tat bedenklich.

Ob es aber sinnvoll ist, die Brosamen aufzusammeln, die bei ihrem Mahle unter den Tisch fallen, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht sollte man doch lieber versuchen, die Speisekarte mit abzufassen oder die Menüfolge zu variieren, als nur die Knochen abzunagen?

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