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Raub ist rationaler als Tausch

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Weißmann, Reich, Republik, Nachkriegsrechte

Der Streit um die richtige Ordnung der Wirtschaft und ihre Einordnung in die Ordnung der menschlichen Dinge ist alt. Wie sehr er auch konservative Kreise entzweien kann, haben in den letzten Wochen die Beiträge in der JUNGEN FREIHEIT an dieser Stelle gezeigt. Hier eine definitive Lösung aufzeigen zu wollen, wäre vermessen. Aber einige Pflöcke einzuschlagen, um die prinzipiellen Grenzen der Leistungsfähigkeit von Markt und Staat zu markieren, ist möglich.

Zu diesem Zweck wird im folgenden auf einige Grundgedanken der sogenannten Neuen Institutionenökonomie (NIÖ) zurückgegriffen. Unter Institutionen versteht man dort, abweichend vom üblichen Sprachgebrauch, nicht soziale und wirtschaftliche Organisationen, sondern vielmehr Systeme von formalen und informellen Regeln zur Steuerung menschlichen Verhaltens. Sie bedürfen dabei allerdings immer auch Organisationen zur Überwachung und Durchsetzung regelkonformen Verhaltens.

Auch Märkte können als Institutionen betrachtet werden, deren fundamentale Regel die des freiwilligen Tausches von wirtschaftlicher Leistung gegen Leistung ist (wobei unter „Leistung“ jedes denkbare Tauschgut zu verstehen ist, also Waren, Dienstleistungen, Geld, soziales Kapital etc.). Diese Regel versteht sich, jenseits der nicht als Markttausch geregelten Hauswirtschaft innerhalb einer Familie, keineswegs von selbst. Denn Diebstahl und Raub – der „Erwerb“ von Leistungen ohne Gegenleistung – sind an sich die rationalsten „ökonomischen“ Aktivitäten. Der „Markt“ allein kann regelkonformes Verhalten nicht bzw. nur zu unannehmbar hohen Transaktionskosten garantieren. Der freie Tausch von Leistung gegen Leistung ist nur dort möglich, wo eine reale Garantiemacht Diebstahl und Raub unterbinden und die Einhaltung der marktwirtschaftlichen Regeln erzwingen kann.

Doch bedarf es erheblich mehr als eines „Nachtwächterstaates“, um funktionsfähige marktwirtschaftliche Systeme aufrechterhalten zu können. Tatsächlich kann ein Markt in der realen Welt nie so funktionieren, wie er gemäß des liberalen Ideals eigentlich sollte. Es ist unmöglich, daß alle Teilnehmer ein vollständiges Wissen über die zu tauschenden Leistungen besitzen und jederzeit an jedem Punkt des Marktgebietes einen gewünschten Tauschvorgang mit einem Partner durchzuführen in der Lage sind. Jedes wirkliche Marktgeschehen findet unter den Bedingungen erheblicher Informationsdefizite und -asymmetrien sowie gravierender Marktzutrittsbarrieren statt. Hinzu kommt, daß die immer größer werdende Vielfalt und Komplexität der angebotenen und nachgefragten Leistungen das Aufstellen immer komplizierterer Systeme sekundärer institutioneller Regeln wie zum Beispiel des Bürgerlichen Rechts nötig werden läßt, um die Fundamentalregel des „freien Tausches“ schon allein angesichts wachsender Informationsdefizite über die Tauschgüter nicht zur Farce werden zu lassen.

Die Aufstellung solcher sekundärer Regeln kann aus mehreren Gründen nicht allein den Marktteilnehmern überlassen werden. Nicht zuletzt, weil manche von ihnen durchaus ein Interesse daran besitzen, sich als Monopolist zu etablieren und damit die fundamentale Regel des freien Tausches zu untergraben. Diese Tendenz begünstigt gerade auch jener Mechanismus, der Marktwirtschaften so leistungsfähig und innovativ macht. Denn der Markt prämiert ja über den Konkurrenzdruck den effizientesten, günstigsten Anbieter und schaltet die weniger effizienten aus, so daß viele Leistungen von einer immer kleiner werdenden Zahl immer größerer Anbieter angeboten werden.

Ein funktionsfähiger Markt bedarf somit nicht nur eines Garanten der Geltung seiner fundamentalen und sekundären Regeln, sondern auch der Existenz eines mit Durchsetzungsmacht ausgestatteten – nicht unmittelbar als Konkurrent im Markt auftretenden – externen Regelsetzers, der marktordnend tätig wird. Für diese Rolle kommt weiterhin nur der klassische Staat in Frage, auch in der sogenannten globalisierten Welt, wo zwischenstaatliche Abkommen und Organisationen zwar Marktregeln aufstellen können, aber zur Durchsetzung dieser Regeln doch wieder auf die staatlichen Gewaltmonopole zurückgreifen müssen. Der „ordoliberale“ Staat ist eine notwendige Voraussetzung für eine  funktionsfähige Marktwirtschaft.

Soviel zu den prinzipiellen Grenzen des Marktes. Seine unbestreitbare ökonomische Leistung besteht hingegen vor allem in der Anpassung und Abstimmung von wirtschaftlicher Leistungserbringung und Nachfrage. Er ist der einzige Ort, wo halbwegs realistische Preise gebildet werden und so auf die realen Knappheitsrelationen angemessen reagiert werden kann. Staatswirtschaftliche Systeme sind dazu kaum in der Lage.

Der Markt allein kann andererseits von sich aus keine lebbare gesellschaftliche Ordnung herstellen. Aufgrund der Freiwilligkeit des Tausches von Leistung gegen Leistung besitzt er zwar einen gewissen sittlichen Wert im Vergleich zu jeder Institution, die auf erzwungenem Leistungstausch beruht. Darüber hinaus kann er durch seine effizienzsteigernde Wirkung insgesamt ein hohes Volumen an Wohlstand erzeugen. Aber er kann nicht aus sich heraus verhindern, daß dieser volkswirtschaftliche Wohlstandszuwachs nur sehr wenigen Mitgliedern einer Gesellschaft zugute kommt. Jeder Markt als reale Institution ist notwendig von Ungleichheiten geprägt. Die Marktteilnehmer unterscheiden sich immer im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit und damit ihre Marktmacht, ihre Marktzutrittsmöglichkeiten sowie ihren Informationsstand, d. h. haben von Beginn an sehr unterschiedliche Chancen, ihre eigene Markposition zu verbessern, knappe Güter zu erwerben und den eigenen Wohlstand zu mehren. Der Markt beruht weder auf Gleichheit, noch schafft er sie, noch nicht einmal Chancengleichheit.

Der Markt ist vielmehr ein Ort vieler Grausamkeiten. Seine ökonomische Funktion kann er wie erwähnt nur durch die beständige Ausschaltung oder Herabstufung von unzähligen Markteilnehmern erfüllen. Dies trifft nicht nur Unternehmen und Unternehmer, die pleite gehen, sondern auch unzählige Angestellte und Arbeiter, deren oft unter großen Mühen erworbenen Fähigkeiten plötzlich sehr viel weniger oder gar nicht mehr gefragt sind. Hinzu kommen all jene, die aufgrund ihres zu hohen oder geringen Alters, Krankheit, Invalidität oder Behinderung auf dem Markt von sich aus gar keine Leistungen anbieten und deshalb dort auch keine erwerben können. Sie alle werden oder bleiben von den Wohltaten des Marktes zunächst ausgeschlossen.

Die Gestaltung der sekundären institutionellen Regeln im Vertragsrecht, Arbeitsrecht, Mietrecht und anderem kann zwar manche der Grausamkeiten des Marktes mildern, aber nicht dessen inhärente Eliminations- und Ausschlußlogik aufheben. Deren Folgen können nur marktextern ausgeglichen werden. Ein Staat, der seine Bürger nicht vollständig den blinden und existenzvernichtenden Zufällen des Marktgeschehens ausliefern will, muß zu einem „Sozialstaat“ werden. Das heißt, er muß neben seinen ordnungspolitischen Aufgaben in der Wirtschaft zugleich einen Teil der wirtschaftlichen Erträge abschöpfen und umverteilen – und zwar an jene, die mangels eigener Leistungsfähigkeit am Leistungsaustausch auf dem Markt kaum oder gar nicht teilnehmen können. Dies um so mehr, da die klassische Versorgungsinstitution der noch nicht oder nicht mehr Leistungsfähigen, die Familie, in Verfall geraten ist.

Dies alles sind keine Argumente gegen die Marktwirtschaft als ein unvergleichlich leistungsfähiges Wirtschaftssystem, aber gegen den hypertrophen Aberglauben, sie könne eine völlig autonome, sich selbst erhaltende und steuernde Institution bilden und des Staates entbehren. Das kann sie nicht; wo das in Vergessenheit gerät wie jüngst im Falle der Finanzmärkte, führt dies unweigerlich in die Krise.

Hier wurde an die prinzipiellen Grenzen der Wirksamkeit von Markt und modernem Staat erinnert, um fruchtlose Konfrontationen zu vermeiden. „Markt“ und „Staat“ sind keine Antagonisten, sondern sich ergänzende Institutionen – oder sollten es eigentlich sein: ein Markt, der sich bewußt ist, daß er einen „starken“ Staat benötigt, der kraftvoll Regelgehorsam garantiert, eine kluge „Ordnungspolitik“ betreibt, um die fundamentalen Funktionen von Markt und Gesellschaft durch sinnvolle Gestaltung der sekundären Marktregeln (was durchaus die Liquidation von überflüssigen und schädlichen Regeln einschließt) zu erhalten, sowie eine ökonomisch tragbare Form der unumgänglichen sozialstaatlichen Ergänzung der marktwirtschaftlichen Verteilungsleistungen sicherstellt. Und ein Staat, der dies als seine zentralen wirtschaftspolitischen Funktionen begreift und sie ausübt, sich aber, als per se schlechter Wirtschafter, eigener ökonomischer Betätigung weitgehend enthält.

Unter der Überschrift „Ohne Selbstausbeuter kein freier Markt“ (JF 44/09) hatte der Kulturjournalist Harald Harzheim an dieser Stelle eine Debatte über den Freiheitsbegriff im Wirtschaftsliberalismus angestoßen. Seine These: Ein unbeschränkter Markt ende im Totalitarismus. „Wer die Marktwirtschaft verdammt, verdammt die Freiheit“, widersprach der Wirtschaftsliberale Bernd-Thomas Ramb („Die Freiheit der Auswahl“, JF 45/09). Den beiden Kontrahenten folgten Beiträge des Philosophen und Publizisten Baal Müller („Ein neuer Ursprung aus Gegebenem“, JF 46/09) sowie des Volkswirts Jens Jessen („Wachstum hebt den Wohlstand nicht“, JF 47/09). In dieser Woche nun beleuchtet der Historiker Dag Krienen noch einmal einige grundsätzliche Aspekte zum Verhältnis von Markt und Staat. In der kommenden Ausgabe wird der liberale US-Historiker Elliot Neaman die JF-Debatte abschließen.

Foto: Wirtschaftsakteure: Den existenzvernichtenden Zufällen des Marktgeschehens ausgesetzt

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