Bisher glaubte Pankraz, der „Piefke“, den die Österreicher als Spottnamen für anmaßungsvolle, komisch schnarrende Deutsche verwenden, sei ein genuiner Wortwitz. Piefke klingt nach Mief, und das harte P am Anfang verleiht diesem Mief eine drollig auftrumpfende, gleichsam obrigkeitliche Spitze. Schon die Berliner Straßenjungen im Biedermeier des 19. Jahrhunderts sangen vom Piefke, wenn sie einen zur Unzeit auftauchenden pickelhelmigen Schutzmann verspotten wollten. „Der Piefke lief, der Piefke lief, der Piefke läuft die Stiefel schief.“ Das, so glaubte Pankraz, hätten die Wiener einfach von den Berliner Gören übernommen.
Jetzt muß er zur Kenntnis nehmen, daß die Angelegenheit viel komplizierter und bedeutungsschwerer ist. Der österreichische Piefke ist angeblich kein bloßer Wortwitz, sondern zielt auf eine reale Persönlichkeit und sei zudem verbunden mit bitteren historischen Erinnerungen. Es geht um die Schlacht von Königgrätz 1866, welche die Österreicher (zusammen mit den Sachsen, Bayern und Hannoveranern) gegen die Preußen verloren, was zur Ausschließung Wiens aus dem deutschen Bund und zur dauernden Vorherrschaft Berlins führte. Und es geht um den preußischen Militärkapellmeister Johann Gottfried Piefke (1815–1884), der den preußischen Sieg nach Meinung der Österreicher allzu laut feierte.
Soeben ist in dem Örtchen Gänserndorf bei Wien, wo Piefke einst den von ihm komponierten Königgrätzer Marsch dirigierte, ein ironisches, Piefke verspottendes Denkmal eingeweiht worden (JF 39/09), eine sogenannte „Installation“, die aus einer kalten Dusche und einer verrosteten Schallplatte besteht, die der Betrachter drehen kann, wobei ein lächerlich krächzendes Geräusch entsteht. O Gott, wie witzig! Dusche und Gekrächz gehen aber gewissermaßen voll nach hinten los. Nicht Gottfried Piefke und sein Marsch werden blamiert, sondern einzig die Gänserndorfer, die wenig guten Geschmack zu haben scheinen.
Gerechte Erinnerung haben sie auch nicht. Gänserndorf ist seinerzeit ja nur zu Piefke und dem Königgrätzer Marsch gekommen, weil die Preußen die besiegten Österreicher nicht demütigen, sondern sogar als künftige deutsche Bundesgenossen ausdrücklich respektiert sehen wollten. Preußenkönig Wilhelm hatte ursprünglich eine gloriose Siegesparade mitten in Wien geplant, doch sein Kanzler Bismarck redete ihm das heftig aus, und so kam es denn zu jener Miniparade auf offenem Feld nahe Gänserndorf, wo auch der Königgrätzer Marsch zum ersten Mal erklang.
Übrigens ist der Königgrätzer Marsch einer der allerbesten Militärmärsche, die je komponiert wurden, und sein Schöpfer Gottfried Piefke darf, seinem putzigen Namen zum Trotz, ohne weiteres als der Heros aller Militärmusik-Kompositeure bezeichnet werden. Er war der Sohn eines Organisten aus Schwerin an der Warthe und genoß eine erstklassige Ausbildung an der Hochschule für Musik in Berlin. Seinen Wehrdienst absolvierte er beim Leibgrenadierregiment Nr. 8 in Frankfurt an der Oder, dem er sein Leben lang verbunden blieb.
Die Militärmusik galt damals allgemein (und speziell in Preußen mit seinen musikalisch so hochbegabten Souveränen) als erstrangiges und privilegiertes Genre des musikalischen Lebens. Mozart, Beethoven und Schubert haben ihr gehuldigt, Friedrich der Große höchstselbst komponierte nach der siegreichen Attacke seines Dragonerregiments Bayreuth in der Schlacht von Hohenfriedberg im zweiten Schlesischen Krieg 1745 den legendären Hohenfriedberger Marsch. König Friedrich Wilhelm III., der Mann von Königin Luise, komponierte den preußischen Präsentiermarsch, der von der Bundeswehr noch heute bei hohen Staatsbesuchen während des Abschreitens der Ehrenkompanie gespielt wird.
Märsche gehörten zur Tradition der Regimenter wie Fahnen und Epauletten. Die Marschkapellen zogen mit in die Schlacht wie Train und Sanitätsabteilung. Jeder Sieg gebar einen neuen Marsch – und hier war es, wo der Ruhm des Gottfried Piefke am intensivsten erstrahlte. Nach der Schlacht auf den Düppeler Schanzen 1864, an der er teilgenommen hatte, schrieb er den Düppeler Schanzenmarsch, 1866 kam der Königgrätzer Marsch, und auf ihn folgte 1871 nach dem Sieg über Frankreich Piefkes absolutes Meisterwerk, „Preußens Gloria“, der Marsch aller Märsche.
Nirgendwo schärfer als beim Hören von „Preußens Gloria“ wird man der heiklen, dennoch tief ergreifenden Todesgewalt gewahr, die allen Militärmärschen innewohnt. Dieser Marsch bündelt mit unheimlicher Konsequenz alle Schatten, die dem Kriegshandwerk innewohnen, und reißt sie gleichzeitig gewaltig auf, vertreibt sie, wie die Sonne schwere Gewitterwolken vertreibt. Aus sturem Massenschritt wird wiegendes Schreiten, aus unartikuliertem Kommandogebrüll glorioser Triumphgesang.
„Marschieren“ heißt im Lateinischen „hämmernd schreiten“; man könnte solches hämmernde Schreiten auch durch bloßes Taktschlagen auf Trommeln und Pauken erzeugen. Aber in „Preußens Gloria“ und den anderen großen Märschen treten zu Trommeln und Pauken Trompeten und Pfeifen, es entsteht Melodie, Erinnerung an den Tanz, von dem alle Musik herkommt. Doch es ist ein Tanz in den Tod. Die Truppe, die zur Musik mit gefälltem Gewehr vorwärts marschiert, versprüht Tod und Verderben, und sie setzt sich ihrerseits dem tödlichen Pelletonfeuer des Gegners aus. Es ist Endzeit, es geht um Entweder/Oder.
Heute, in den asymmetrischen, musiklosen Kriegen der Neuzeit, wo es keine Fronten mehr gibt und der Tod vorzugsweise von oben oder aus dem Hinterhalt kommt, braucht man keine Märsche mehr. Sie dienen nur noch der gehobenen Erinnerung und Unterhaltung, etwa bei Freundschaftstreffen internationaler Militärkapellen. Auch dort freilich erklingt nach wie vor Johann Gottfried Piefke, und er klingt dort unverändert gut. Mißtöne kommen einzig aus der verrosteten Dusche von Gänserndorf.